«…den Zufälligkeiten freien Lauf lassen» – Gespräch mit Filmemacher Alan Berliner

in: Filmbulletin 2.03 (April 2003)

«Sind Sie nicht der Regisseur von «Ma vie en rose»?» Diese Frage kriegt der New Yorker Künstler Alan Berliner des öfteren gestellt und freundlich klärt er jeweils die Verwechslung mit dem belgischen Filmemacher und Namensvetter Alain Berliner. Verschafft hat ihm diese immer wiederkehrende Verwechslung das Thema seines letzten Films: In «The Sweetest Sound» lauscht er dem süssen Klang des eigenen Namens nach und lädt kurzerhand alle Alan Berliners der ganzen Welt zu sich zum Abendessen ein. Damit ist Berliner, dessen Arbeiten als Experimentalkunst zu unterhaltsam und als Dokumentarfilm zu verspielt sind, endlich ganz bei sich und seiner eigenen Person angekommen.
In den Kurzfilmen zwischen 1975 und 1985 erwies sich Berliner als geschickter Arrangeur von Filmtrouvaillen unterschiedlichster Herkunft – ob er Sequenzen aus gelbstichigen Dokumentarfilmen zu einer kakophonischen Sinfonie über die Natur orchestrierte oder Stadtimpressionen zum filmischen Äquivalent einer Tageszeitung zusammen montierte – die Filme beweisen neben Virtuosität immer auch Witz.
In seinem ersten Langfilm «The Family Album» (1986) zeichnet Berliner aus alten Privataufnahmen, die zwischen 1920 und 1950 entstanden sind und einem Soundtrack aus ebenso zusammengeklaubten Tondokumenten, das Panorama einer amerikanischen Volksgeschichte.
In «Intimate Stranger» (1991) versucht der Filmemacher den Geist seines Grossvaters mütterlicherseits erstehen zu lassen, der in den unterschiedlichen Zeugnissen abwechselnd als Kriegsheld, Tausendsassa und Tunichtgut auftritt. Damit bewegt sich Berliner, wie er selber sagt, auf der feinen Linie zwischen «schmutzige Wäsche waschen» und der stolzen Präsentation des «Familienjuwels».
Für den vorletzten Film hat sich Berliner in der Familiengenealogie weiter vorgetastet und versucht sich an einem Interview mit dem eigenen, verbohrten Vater. Der allerdings erachtet sein eigenes Leben als «Niemandes Sache». Nicht zufällig alterniert Berliner in «Nobodys Business» die Gespräche mit alten Aufnahmen aus einem Boxkampf, denn wie der Ringkämpfer muss auch der Sohn so manchen abwehrenden Kinnhaken seines Vaters einstecken. Dieser ebenso berührende wie witzige Schlagabtausch zwischen den Generationen wurde zum wohl bekanntesten Film Berliners und erhielt unter anderem 1997 den grossen Preis am Internationalen Dokumentarfilmfestival «Vision du Reel» in Nyon.

Beginnen wir, indem wir über die frühen Kurzfilme sprechen. Hier ist Ihr Gestus kein erzählender, wie in ihren späteren Langfilmen. Stattdessen experimentieren sie mit heterogenem Filmmaterial aus diversen Quellen, sogenanntem «Found Footage», das Sie neu kombinieren. Was hat Sie hier besonders interessiert?

Allgemein gesprochen geht es in den frühen Kurzfilmen darum, Ordnungen im Chaos aufzuspüren; Kohärenz oder besser Sinnzusammenhänge zu kreieren zwischen Fragmenten aus absolut unterschiedlichen Universen. Bei einem Puzzle weiss man, dass die einzelnen Teile gemacht sind, um sich zu einem bestimmten Ganzen zusammenzufügen. Im Gegensatz dazu sehe ich meine Filme, auch die späteren, als ein Puzzle, dessen endgültige Form noch nicht vorherbestimmt ist. Diese Puzzles, die mich interessieren, werden durch die einzelnen Teile erst gemacht. Ich versuche Strukturen, Formen zu bilden aus Versatzstücken, die von den verschiedensten Orten der Welt, des Kinos, oder auch meiner Imagination kommen. Ich lasse sozusagen den Zufälligkeiten des Lebens freien Lauf. Trotzdem ist meine Arbeit etwas sehr Vorsichtiges und Kontrolliertes. Aus der Sammlung an gefundenem Bild und Tonmaterial wähle ich sehr sorgfältig aus und versuche die Einzelteile immer wieder zu ordnen. Andererseits bleibt die Frage, wieviel Ordnung hier überhaupt möglich ist, denn schliesslich habe ich diese Teile ja nur zufällig gefunden. Mir geht es folglich um diese Gleichzeitigkeit von kontrollierter Ordnung und spielerischem Zufall, Erwartung einerseits und Überraschung andererseits.

Und der Zuschauer beginnt zu erkennen, dass alles irgendwie zusammenhängt in seiner ganzen Zufälligkeit. So entsteht schliesslich doch etwas wie ein vielgestaltiges Abbild des ebenso vielschichtigen Lebens.

Nun ich hoffe, das gelingt mir.  Ich würde gerne etwas schaffen, wie Dziga Vertov in seinem Film «Der Mann mit der Kamera» (1929). Dieser Film, der so inspirierend für mich war und der mich wahrscheinlich dazu geführt hat, dass ich selber Filme machen wollte, basiert auf der Prämisse, dass ein Mann einfach durch die Strassen geht und mit seiner Kameras Details aufspürt und sie filmt. Momente im Leben einer Stadt, wie in gerade jetzt, wenn draussen ein Auto vorbeifährt oder wenn der Kellner dort drüben den Tisch abwischt. Die Ansammlung von Details und Momentaufnahmen gibt einem einen Eindruck von Lebendigkeit, dem Film gelingt es dann, ein Stück Leben einzufangen.
Wir tun ja eigentlich dasselbe in unserem Alltag mit all den unterschiedlichen Gedanken und Eindrücken, mit denen wir täglich konfrontiert sind. Auch hier versuchen wir all diese Puzzleteile zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzusetzen, um ein Bild unseres Lebens daraus zu machen, das einen Sinn ergibt. Es ist aber nicht gesagt, dass sich die verschiedenen Teile tatsächlich verbinden lassen. Folglich wird unsere Überzeugung, dass unser Leben kohärent sei, fundamental in Frage gestellt. Ja, wahrscheinlich entpuppt sich die Idee, dass es nur ein Ich gebe als Illusion. Aber es ist eine Illusion, die wir brauchen, um überhaupt leben und funktionieren zu können.

Mir fällt hier Ihr Kurzfilm «City Edition» von 1980 ein. In ihm zeigen sie lauter alltägliche Abläufe, die parallel geschehen und die einzig dadurch verbunden sind, dass sie in ein und derselben Stadt geschehen.

Dieser Film ist natürlich, wie der Titel schon andeutet, auch stark von dem Konzept der Zeitung beeinflusst. Ich hatte dabei ein Zitat des Medientheoretikers Marshall McLuhan im Kopf, in dem er sagt, dass eine Zeitungsseite ebenso vielschichtig sei, wie ein Gemälde von Picasso. Darauf habe ich die Zeitung als eine Art kubistische Collage betrachtet. Und in der Tat ist ja jede Zeitungsseite eine Komposition. Ein Block Irak da, ein wenig Nuklearversuch dort, da ein Streifen Schweiz. Jeden Tag erhalten wir mit der Zeitung ein neues Puzzle. Mir gefällt das und ich wollte, dass der Film demselben Prinzip folgt und dasselbe Gefühl vermittelt. Jeder Tag als ein Puzzle dessen endgültige Form erst noch im Entstehen ist. Also versuchte ich mittels Montage und der Kombination von Ton und Bild das Kompositionsprinzip der Zeitungsseiten auf mein Medium zu übertragen.

In «City Edition» ist die Stadt das einheitsstiftende Moment. In «Natural History» von 1983, einem anderen Kurzfilm, ist die Beschaffenheit des Filmmaterials selber das verbindende Element indem Sie nämlich die Markierungen und Beschriftungen auf schwarzen Filmenden aneinandermontieren und sie zu einer Art kalligraphischem Animationsfilm fügen.

Nun, ich liebe es, mir diese Markierungen, die Risse oder Kratzer im Filmmaterial anzuschauen.

Es ist ein Moment, wo Film etwas Viszerales bekommt……und es ist ein Moment, wo man anfängt nicht länger das zu sehen, was in dem Film dargestellt ist, sondern den Film selber in seiner Materialität.

Genau. Wahrscheinlich ist diese Materialität des Films, das Taktile, das damit verbunden ist, auch der Grund, weshalb ich Film der Arbeit mit Video vorziehe.

Filmausschnitte aufgrund ihrer Oberflächenbeschaffenheit, ihres Rhythmus oder ihrer formalen Gestaltung miteinander zu kombinieren, erscheint mir als wesentliches Stilprinzip Ihrer Kurzfilme. Aber der Versuch, Elemente aufgrund von oberflächlichen Gemeinsamkeiten zu verbinden, ist auch in ihren Langfilmen von grosser Bedeutung. In «The Sweetest Sound» beschäftigt Sie die Frage, was es bedeutet, wenn verschiedene Menschen, den gleichen Namen tragen. 


Mich interessierte, ob Menschen mit gleichen Namen wohl mehr gemeinsam haben, als bloss ihren Namen. Entsteht unter ihnen so etwas wie ein Gefühl von Familie? Ich habe in der ganzen Welt Leute mit dem Namen «Alan Berliner» angerufen und nach New York zu einem Abendessen eingeladen, um herauszufinden, ob es da Verbindungen gibt. Leider habe ich nicht gefunden, was ich mir vielleicht erhoffte. Einige der Leute, die ich eingeladen hatte, fanden heraus, dass Sie miteinander verwandt waren – diese haben etwas Familiäres entdeckt, ich jedoch nicht.

Sie haben den Begriff der Familie erwähnt und ich glaube es ist ein Schlüsselbegriff für Ihre Arbeit. In ihm überlappt sich das Oberflächliche (wie etwa einen gemeinsamen Namen zu tragen) mit dem Intimen und Persönlichen. Was bedeutet das also, «Familie»?

Nun, «Familie» ist eine sehr komplexe Konstruktion, angefüllt mit allen Arten von Fiktionen, Annahmen und Erwartungen. Man weiss kaum, womit man beginnen soll. In der Familie geht es beispielsweise um Übertragung: Dinge, die von einer Generation an die andere weitergegeben werden. Mit einigen dieser Dinge können wir umgehen, mit anderen wiederum nicht. Etwas, das man von den Eltern erbt, sind die Gene. Das kann man nicht kontrollieren und trotzdem muss man lernen, damit umzugehen. Mein Vater war beispielsweise sehr dickköpfig und sein Vater war genau so. Was heisst es nun, wenn jemand zu mir sagt, ich sei dickköpfig? Gibt es ein Gen für Dickköpfigkeit? Ist alles nur eine Frage der Genetik?

Glauben Sie das?

Nein, aber es gibt unzählige andere Formen der Übertragung: Psychische oder kulturelle Übertragungen. Familiengeheimnisse, Mythen, Verhaltensweisen. Manchmal können wir dieses Erbe hinter uns lassen, können es überwinden und manchmal bricht es einfach in uns durch. Was ist nicht vererbt? Wo endet das? Ist mein Sinn für Humor oder meine Lebenshaltung geerbt? Ich glaube nicht, dass alles genetisch bedingt ist, aber in irgendeiner Form geschieht eine Übertragung von einer Generation auf die nächste.

In «Nobodys Business» zeigen sie im Versuch ihren Vater zu interviewen, ja die genau gleiche Hartnäckigkeit beim Fragen, wie er sie zeigt, wenn er sich ihren Fragen konstant entzieht. Man sieht hier auch gleichzeitig Möglichkeit und Unmöglichkeit, die Vergangenheit einer Familie zu ergründen. Ich denke dabei an diese wunderbare Szene, in der Sie Ihrem Vater eine Fotografie seines Urgrossvaters zeigen, worauf ihr Vater meint: «Das ist doch bloss irgendein alter Jude». Trotz gemeinsamer Familie besteht da keine Verbindung. In «The Sweetest Sound» gehen Sie in umgekehrter Richtung vor und fragen sich, ob ein gemeinsamre Name schon «Familie» bedeutet.

«Nobodys Business», wie auch «The Sweetest Sound» kreisen tatsächlich  um die Frage, ob man aus Fremden eine Familie machen kann. Ich habe in «Nobodys Business» entfernte Cousinen und Cousins angerufen und ihnen gesagt: «Du kennst mich zwar nicht, aber wir sind verbunden, wir gehören zur selben Familie». In «The Sweetest Sound» war es wie gesagt ähnlich.
Mir geht es darum, Verbindungen zu finden, mich in andern zu spiegeln, um so hoffentlich etwas über mich selbst herauszufinden. Dass man irgendwo einen Cousin hat, mag oberflächlich betrachtet vollkommen bedeutungslos sein oder wie es einer meiner Cousins den ich im Zusammenhang mit «Nobody Business» kennengelernt habe, formulierte: «Wir sind Cousins, weil es das Wort Cousin gibt. Bedeuten tut es jedoch nichts. Es ist bloss eine Bezeichnung. Ich kenne dich nicht und du kennst mich nicht. Du hast bloss zufälligerweise ein paar Gene mehr mit mir gemeinsam als mit den meisten anderen Menschen.»  
Dasselbe gilt für den eigenen Namen: Er bedeutet vielleicht nichts und trotzdem, lass uns versuchen, ob da nicht etwas ist, ob wir im Kontakt miteinander nicht etwas über uns selbst herausfinden. Manchmal funktioniert es. Als ich für «The Family Album» all diese fremden Homemovies anschaute, von Leuten, die ich gar nicht kenne und von denen ich nichts weiss, begannen diese Menschen in den Filmen mir doch langsam vertraut zu werden und ich fand etwas über mich selbst heraus. Sie wurden tatsächlich eine Art Familie für mich. Die Homemovies wurden buchstäblich MEINE Homemovies.

Dabei geht es Ihnen offenbar auch immer wieder darum, etwas über die Vergangenheit herauszufinden, die eigene, aber auch die allgemeine historische. Ein Film wie «The Familiy Album» empfinde ich dabei sehr stark als Brückenschlag in jene Vergangenheit.

Das Medium Film ist mit seinen hundert Jahren ja noch nicht besonders alt und das älteste Material, mit dem ich gearbeitet habe, stammte aus den frühen Zwanziger Jahren. Trotzdem haben diese Filme etwas von einer Zeitkapsel. Sie sind ein Fenster zu einer Welt, die längst aufgehört hat, zu existieren. Der klassische Hollywoodfilm erzählt uns etwas über die Vergangenheit, diese privaten Homemovies aus den 20er bis in die 50er Jahre erzählen uns jedoch etwas anderes. Hier wird die allgemeine Geschichtsschreibung verlassen zugunsten einer privaten, unbewussten Volksgeschichte, die von den einzelnen Familien selbst produziert wird. In «The Family Album» habe ich versucht aus diesen Materialien einen Film zu machen über eben diese unbewusste Geschichtsschreibung.

Das klingt nach einer grossen  Verantwortung, die Sie als Filmemacher haben; die Verantwortung eine ungesagt gebliebene Geschichte zu erzählen. Das führt mich zu der heiklen Frage, ob es in Ihrer Arbeit nicht auch eine spezifisch ethische Komponente gibt. Existiert nicht eine Verantwortung für das, was man gesehen hat? Sind Sie nicht auch verantwortlich gegenüber den Menschen, deren Filme Sie anschauen?

Ich wünschte mir oft, meine Filme wären radikaler, weniger verantwortungsbewusst. Trotzdem ist es für mich überaus wichtig, respektvoll mit der Vergangenheit und den Dokumenten dieser Vergangenheit umzugehen. In «The Sweetest Sound» verlese ich beispielsweise eine Liste all derer, die mit Namen «Berliner» im Holocaust umgekommen sind. Ich hätte an dieser Stelle auch etwas Lustigeres platzieren können, das mehr zum heiteren Ton des restlichen Films gepasst hätte. Irgendwie fühle ich mich jedoch verantwortlich für diese Schicksale, von denen ich zwar nichts weiss, mit denen ich aber durch den Namen verbunden bin.
Auch bei «The Family Album» hatte ich gemischte Gefühle. Einerseits fühlte ich mich privilegiert, so viele verschiedene Homemovies zu besitzen, andererseits ist das auch eine Last. Es sind Dokumente von Leute, die gestorben sind, von denen nur noch diese Spur auf Film geblieben ist. Ich hätte mich über diese Leute lustig machen können, hätte über diese Ausschnitte witzeln können, aber ich wollte respektvoll mit dem Andenken dieser Menschen umgehen und wollte dabei trotzdem nicht meine spielerische Arbeitsweise aufgeben.

Diese Gratwanderung zwischen Respekt und Aneignung zeigen Sie in «The Sweetest Sound» sehr anrührend, wenn Sie zu Beginn Filmausschnitte zeigen und dabei erzählen, wie Sie den unbekannten Gesichtern erfundene Namen zu geben pflegen. Am Ende des Films zeigen Sie die Aufnahmen erneut und erklären, dass Sie, obwohl Ihnen diese Personen mit ihren Fantasienamen unterdessen ans Herz gewachsen sind, doch gerne deren richtige Identität kennen würden und rufen die Zuschauer dazu auf, sich bei Ihnen zu melden, wenn sie jemanden erkennen sollten.

Auch das ist eine Form des verantwortungsvollen Respekts: Ich kann mir zu diesen Gesichtern zwar Namen ausdenken, aber ich muss doch anerkennen, dass es Menschen sind, die tatsächlich gelebt haben, die eine Familie, eine eigene Geschichte und einen eigenen Namen hatten. Als ich «The Family Album» zum ersten Mal am amerikanischen Fernsehen zeigte, meldeten sich drei Familien bei dem Fernsehsender und sagten «Hey, das sind ja unsere Filme!» worauf  ich sie ihnen zurückgab. Eine Familie hat mich gar zum Essen eingeladen und es war ein schönes Gefühl, ihnen ein Stück der eigenen Vergangenheit wie einen Schatz zurückzuerstatten.

Wir haben viel von Zufällen gesprochen. Wie sieht es damit im Bezug auf den handwerklichen Aspekt Ihrer Filme aus? Beim Betrachten Ihrer Arbeiten hat man niemals das Gefühl, Sie hätten eine vorgefasste These, die sie im filmisch belegen wollen. Der Eindruck ist vielmehr ein spielerischer. Trotzdem ist offensichtlich, wie präzise und strukturiert Ihre Filme sind. Wie kann man sich also Ihren Arbeitsprozess im Spannungsfeld von spielerischem Experiment und ausgefeilter Dramaturgie vorstellen?

Meine Arbeiten sind sehr stark ein «work in progress». Ich verfasse beispielsweise nie ein Drehbuch, ich schreibe nicht einmal ein Treatment. Ich gebe mich ganz in den Arbeitsprozess hinein, im Glauben, dass ich schon etwas finden werde. Es ist ein wenig so, wie wenn man eine Mine gräbt und hofft, fündig zu werden. Ich weiss nicht, was ich finden will, sondern muss statttdessen auf den glücklichen Zufall vertrauen. Dass ich mich so zum Unvorhersehbaren hingezogen fühle und nicht fähig bin, meine Entdeckerlust einem Drehbuch unterzuordnen, mag wohl auch ein Grund sein, warum ich keine Spielfilme mache. Trotzdem bin ich natürlich gegenüber meinem Zuschauer verpflichtet, dass er etwas Interessantes zu sehen bekommt und zuweilen muss ich mich auch von allein persönlichen Interessen abwenden können.
Für dieses prozessorientierte Arbeiten braucht es viel Geduld und ausserdem jede Menge Leidenschaft und Hartnäckigkeit. Bei «Nobodys Business» hatte ich beispielsweise einfach die Idee, dass ich meinen Vater interviewen wollte. Ich wusste noch nicht, was dabei herauskommen würde, gerade das galt es ja herauszufinden. Und wie man in dem fertigen Film sieht, brauchte ich dafür sehr viel ausdauernde Hartnäckigkeit.

Viele Zuschauer sind wohl auch überfordert von dieser Offenheit ihrer Filme, nicht zuletzt, weil man nicht weiss, welchem Genre ihre Filme zuzurechnen sind.

Man hat im Laufe der Jahre so viele verschiedene Bezeichnungen für meine Filme gefunden, dass es mich unterdessen gar nicht mehr kümmert. Man hat sie «ExperimentalDokumentarfilme» genannt, «persönliche Essays», «essayistische Filme», «Biograhische Filme», «persönliche nichtfiktionale Filme», «AvantgardeFilme». Ich bin glücklich, im Kreuzungsfeld verschiedenster Impulse und Traditionen zu stehen. Ich habe sogar noch ein grösseres Problem, da ich auch Kunstinstallationen mache. Die «Filmwelt» kennt meine Installationen nicht und die Kunstwelt kennt meine Filme nicht. Was bin nun? Ein Medienkünstler? Ein Filmemacher? Ich habe keine Ahnung. Aber es spielt ja auch keine Rolle. Was ich anstrebe und ich glaube, das gilt für einen Grossteil der Künstler, ist so etwas wie Authentizität. Was jedoch authentisch ist, wird immer zwischen alle Kategorien fallen, da es ja etwas ist, dass noch nie vorher zu sehen war.

Wo sind eigentlich Ihre Filme zu sehen? 


Sie werden hauptsächlich am Fernsehen gezeigt. Es gibt zwar hin und wieder Retrospektiven in Kinos, aber das ist eher selten.

Aber ihre Filme sind doch für die grosse Leinwand gemacht.

Lassen Sie mich erzählen, wie ich herausgefunden habe, dass meine Filme offenbar doch nicht fürs Kino geschaffen sind. Nachdem ich «Intimate Stranger» (1991) gemacht hatte, zeigte ein Kino in Washington meinen Film für eine Woche und der Besitzer bat mich in seinem Kino eine Einführung zu geben. Der Besitzer zeigte zuvor den Film einem Reporter der «Washington Post» und dieser schrieb eine derart euphorische Kritik, dass es fast peinlich war. Der Besitzer des Kinos faxte mir diese Rezension und schrieb dazu, dass diese Kritik zu den besten gehöre, die je ein Film, den er gezeigt habe, bekommen hätte und er prophezeite mir, dass mein Film unglaublich erfolgreich sein würde. Das Kino umfasste etwa 250 Plätze, was nicht riesig ist, aber immerhin. Es kamen schliesslich etwa um die 100 Zuschauer. Da begriff ich: Man kann es erscheinen lassen als der unglaublichste Film aller Zeiten, man kann es noch so schönreden, am Ende ist und bleibt es der Film eines jungen Filmemachers über seinen Grossvater und das interessiert das grosse Publikum nicht. Das ist schlicht und einfach nicht sexy und ich denke das gilt für alle meine Filme. Vielleicht schaut man sie sich am Fernsehen an, aber extra aus dem Haus geht man dafür nicht. Dieses Erlebnis hat mich sehr ernüchtert und lehrte mich, meine grossen Erwartungen herunterzuschrauben. Es hat meine Art Filme zu machen zwar nicht verändert, meine Auffassung davon, was meine Filme erreichen können jedoch schon.