Neue Zürcher Zeitung, 24.4.2014, S. 21:
Kino und Kapitalismus haben nicht nur den Anfangsbuchstaben gemeinsam, sie sind auch sonst schier unlösbar miteinander verstrickt. Gerne geht vergessen, dass die fotografischen Bewegungsstudien Eadweard Muybridges, welche verschiedene Phasen körperlicher Aktion in Einzelbildern festhielten und heute als Ikonen der frühesten Filmgeschichte gelten, dazu dienten, die Fliessbandarbeit der Stahlindustrie von Philadelphia zu optimieren. Zeit ist Geld – das sattsam bekannte Credo der Wirtschaft gilt in besonderem Masse auch für den Film, diese kostspieligste aller Kunstformen. Der oft auf Hollywood angewendete Ausdruck «Traumfabrik» ist denn auch durchaus gerechtfertigt, und auch jenseits amerikanischer Massenproduktion haftet dem Filmemachen ob seiner hohen Arbeitsteiligkeit zwangsläufig ein industrieller Charakter an.
Und selbst wer das Kino als Zeitvertreib versteht, kommt aus den ökonomischen Verstrickungen nicht heraus, denn auch der moderne Begriff der «Freizeit» ist ein Produkt der Industrialisierung und der damit einhergehenden Festlegung von Arbeits- und Ruhezeiten. So dienen die Geschichten des Kinos einerseits als Flucht vor der kapitalistischen Arbeitswelt und deren Zeitlogik und sind zugleich selbst deren exemplarisches Produkt.
Vielleicht ist es gerade dieser paradoxe, mehrfache Bezug, der das Kino befähigt, den Kapitalismus besser zu begreifen als andere Künste. Die Reihe «Eat the Rich» im Kino Xenix liefert dazu den Beweis: Der brillante Dokumentarfilm «Cleveland Versus Wall Street» des Westschweizer Filmemachers Jean-Stéphane Bron wird dank seinen filmischen Mitteln der Subprime-Krise von 2008 besser gerecht als alle anderen Kommentare. Und so demonstrativ artifiziell David Finchers «Fight Club» daherkommt, vermag er gerade dadurch eine irritierende Wahrheit über die Janusköpfigkeit des Kapitalismus auszusprechen. Finchers Heldenduo – einerseits das namenlose Arbeitstier, welches für eine Autofirma defekte Produkte zurückruft, und andererseits sein Gegenstück, der vor Testosteron strotzende Macho, der uns beibringt, wie gut es Männern tut, sich gegenseitig die Fresse zu polieren – sie beide verkörpern die Schizophrenie eines Wirtschaftssystems. Edward Norton und sein Alter Ego Brad Pitt, sie sind das gespaltene Subjekt des Kapitalismus: ein Wolf im Pelz des brav konsumierenden Schafes und umgekehrt. Die Fähigkeit des Kapitalismus zur Verquickung der Gegensätze bedeutet aber auch, dass noch der brachialste Ausbruch aus dem Korsett des Konsums gewinnbringend bewirtschaftet werden kann. Selbst der Bruch mit dem System bleibt diesem immanent und erweist sich immer wieder als dessen neuestes Erfolgsprodukt.
Gegenüber der verstörenden Ausweglosigkeit von Finchers Film kann die antikapitalistische Agitprop in Godards «Masculin féminin» da nur rettungslos nostalgisch wirken. Und auch Oliver Stones «Wall Street» von 1987 mutet geradezu rührend naiv an, wenn er den aufrichtigen Gewerkschaftersohn Bud gegen den ruchlosen Börsenspekulanten Gordon Gekko auszuspielen versucht. Das Publikum freilich war weit weniger naiv und hat schnell durchschaut, dass der Film – unbeabsichtigt – gerade das zelebriert, was er zu kritisieren vorgibt. Und so empfand das Publikum denn auch nicht den Wohlanständigen, sondern den Schurken Gekko als das eigentliche Vorbild, dem es – sowohl modisch als auch geschäftlich – nachzueifern galt. Der Schriftsteller Bret Easton Ellis wird über diese Ironie nur geschmunzelt haben, denn er dachte zur selben Zeit schon über die Nachkommen Gordon Gekkos nach.
Sein Romanheld, der Yuppie Patrick Bateman aus «American Psycho», führt denn auch bloss bis zur letzten Konsequenz aus, wovon in den Chefetagen ohnehin unentwegt gesprochen wird – er killt seine Konkurrenten nicht mehr nur metaphorisch am Verhandlungstisch, sondern auch konkret und mit viel Blut. So wie in Peter Richardsons «Eat the Rich», der im selben Jahr wie «Wall Street» in die Kinos kam und wo es in einem Nobelrestaurant Yuppies zu verspeisen gibt, so nimmt auch Ellis‘ kannibalischer Held den martialischen Geschäftsjargon wörtlich: Wenn beim Businesslunch von Fusionen und Geschäftsübernahmen, also von «mergers and acquisitions» gesprochen wird, missversteht Bateman das unweigerlich als «murder and executions». Von den brutalen Geschäftspraktiken ist es nur ein kleiner Schritt zu echtem Mord und Totschlag.
Im Nachhinein muten Ellis‘ Roman und dessen kongeniale Verfilmung durch Mary Harron freilich gar nicht mehr so provokant an wie einst. Dass koksende Wall-Street-Spekulanten mit ihren Rechenspielen echte Menschenleben vernichten, ist leider längst zum Allgemeinplatz geworden. Und so bleiben denn die Filme, die den Kapitalismus anzuprangern versuchen, unweigerlich in dessen eigener Logik befangen. Wer versucht, dem System einen Spiegel vorzuhalten, muss immerzu bedenken, dass er sich dabei selbst mit in dem Spiegelkabinett einfängt.
Am eindrücklichsten lässt sich diese Aporie noch immer an Jacques Tatis Opus magnum «Playtime» zeigen. Für dieses grandiose Porträt der modernen Konsumwelt hat der französische Komiker vor den Toren von Paris nicht weniger als eine eigene Industriemetropole aufgebaut und sich dabei restlos verspekuliert. Der Perfektionismus, der ihn dazu trieb, über Monate hinweg alle noch so winzigen Details – von den Handtaschen der Komparsinnen bis zum speziellen Glanz der mit Chromstahl verkleideten Säulen – genau aufeinander abzustimmen, hat ihn schliesslich sein ganzes Vermögen gekostet. Und am Ende wollte das Publikum dieses Meisterwerk gar nicht sehen. Tatis Angriff auf den Kapitalismus hat ihm den finanziellen Ruin gebracht. Traurig, aber passend.
«Eat the Rich»; bis 28. 5. Kino Xenix (Kanzleistr. 52), www.xenix.ch.