Filmbulletin 6.08 (2008), S. 11-13 ///
Die allererste Szene ist irreführend und wegweisend zugleich: Ein Schlafzimmer in Rio; ein Ehepaar beim Sex; das Bett zwischen Spiegeln, in denen sich die Körper bis ins Unendliche vervielfachen. Andy, der Mann, betrachtet seine Doubles, während er in seine Gattin dringt und erregt sich am Bild der eigenen Leidenschaftlichkeit. Später Erschöpfung, befriedigtes Lachen. Sie fühlt sein Herz und fragt belustigt: «Meinst Du, Du schaffst es noch bis zum Abendessen?» Doch was hier im Scherz gesagt wird, erweist sich schon bald als bitterer Ernst: Wie lange Andy es noch schafft, ist längst fragwürdig geworden. Ein Zusammenbruch steht kurz bevor oder vielmehr: er ist schon da. «May you be in heaven half an hour, before the devil knows you’re dead» so lautet der irische Trinkspruch, welcher den Titel des Films inspiriert hat. Doch nicht nur Satan ist ahnungslos. Die Menschen selbst – diese armen Teufel – verkennen, dass sie eigentlich schon tot sind, während sie noch jenes kleine Stückchen Paradies geniessen, das nur in Spiegeln, nur als Vorspiegelung existiert.
So wie Andy sich in Rio eine bessere Zukunft fantasiert, so träumt er sich im gestylten Appartement eines Dealers aus dem Schlamassel, das sein Leben geworden ist. Das Glück ist verkümmert zu einer Linie Koks, eine Spritze Heroin – eine halbe Stunde Paradies, das einen den Tod vergessen lässt. Doch um weiter zu träumen braucht Andy Geld; Geld um die hohen Unterschlagungen in seiner Maklerfirma zu kaschieren; Geld für den endgültigen Ausstieg aus dem verfahrenen Alltag. Andys Bruder Hank braucht das Geld genau so nötig; für die Unterhaltszahlungen an seine geschiedene Frau und den Versuch, vor der Tochter nicht als jener armselige Verlierer dazustehen, der er geworden ist. Ein Überfall auf ein Juweliergeschäft soll es für die beiden Brüder richten. Nichts Kompliziertes, nur der kleine Laden eines älteren Ehepaars in der Vorstadt, den die beiden Brüder – aus Gründen die noch zu klären sein werden – bestens kennen. Doch der Coup geht gründlich schief.
Was in einem Krimi der Höhepunkt wäre, der Einbruch im Juweliergeschäft, ist in Sidney Lumets Film gerade mal der Anfang. Der Raub – erst recht in seinem Scheitern – ist nur ein Symptom für all das, was immer schon schief gelaufen ist. Von hier ausgehend setzt sich die Geschichte in virtuos verschachtelten Vor- und Rückblenden allmählich zusammen. Doch jede neu hinzugefügte Facette zeigt nur noch deutlicher wie fatal das Ganze ist.
Das Drehbuch der Debütantin Kelly Masterson war Lumet als Heist-Thriller angeboten worden, er indes hat darin sogleich das Drama, mehr noch: das Melodrama gesehen. «Im Drama bestimmen die Figuren die Handlung, im Melodrama hingegen bestimmt die Handlung die Figuren», so brachte Lumet in einem Interview den Film auf eine prägnante Formel. Diese kann auch für das restliche Oeuvre des grossen Regisseurs gelten. Zu Recht ist Lumets Kino berühmt für seine psychologisch-stimmigen Figuren und doch wird darin selten Psychologismus betrieben. Stattdessen zeigt Lumet immer wieder, wie der innerste Antrieb der Personen von äusseren Umstände bestimmt ist. Bereits in seinem Erstling «Twelve Angry Men» ist es erst die klaustrophobische Situation im Sitzungszimmer einer Geschworenen-Jury, welche die Individuen zwingt, Stellung zu beziehen. Im verkannten Kriegsfilm «The Hill» entpuppt sich ein sadistischer Sergeant, der seine Untergebenen quält seinerseits als Opfer einer Kriegsmaschinerie, in der die Grausamkeit gegen die eigenen Soldaten längst keine Ausnahme, sondern die Norm darstellt. Selbst der absolute Akt des freien Willens, der Suizid – so zeigt die ätzende Fernsehsatire «Network» – ist nicht Privatsache, sondern massenmedial zubereitete Ware, bei der allein die Einschaltquote zählt. Immer wieder ist es die Situation, welche die Charaktere erst erschafft. Dieses Fehlen von Selbstbestimmung macht Lumets Figuren freilich nur noch ergreifender: nicht einmal ihr Intimstes gehört ihnen selbst. Und genau so wie der Bankräuber Sonny in «Dog Day Afternoon», der, umzingelt von Reportern, Schaulustigen, Polizei weder ein noch aus weiss, so können auch in «Before the Devil Knows You’re Dead» die Figuren nur reagieren, niemals aber selbst agieren. Statt Protagonisten ihres eigenen Dramas, sind sie nur hilflose Hampelmänner des Melodrams, das sich um sie entspinnt.
Diese Ausweglosigkeit der Situation hat Lumet noch zusätzlich verschärft, indem er sie konsequent auf den, fürs Melodrama so typischen Schauplatz verlegt: die Familie. In der Drehbuch-Vorlage sind die beiden verzweifelten Diebe nur enge Freunde, Lumet hat aus ihnen Brüder gemacht. Lüge, Verrat, Betrug, Mord – alles Unheil in diesem Film findet zwischen den engsten Verwandten statt. Die schreckliche Tat erhält dadurch mythische Dimension, sie wird zur buchstäblichen Erbsünde: Eine Schuld, die man weitergibt, vom Vater an den Sohn, vom Ehemann an die Ehefrau, von Bruder zu Bruder. Nicht umsonst sehen wir einmal Hanks Tochter in einer Schulaufführung von Shakespeares «King Lear» – wiederum eine Geschichte um Väter, die ihre Kinder töten und Geschwister, die sich gegenseitig auslöschen. Shakespeare oder Sophokles, das sind denn auch die Vorbilder, an denen Lumet sich offensichtlich orientiert, neben denen der Film aber auch tatsächlich bestehen kann.
Um die meldoramatische Übersteigerung zu erreichen, hat Lumet alle überflüssigen Figuren und Nebenhandlungen aus dem Skript gestrichen. Auch daran erkennt man in ihm den Autoren: nicht nur in dem was er hinzufügt, sondern noch stärker in dem, was er weglässt. Zu diesem Prinzip der Radikalisierung gehört auch das Spiel der Darsteller: Philip Seymour Hoffman und Ethan Hawke als «Brothers in Arms» und Albert Finney als ihr Vater spielen fast schon exaltiert und damit aber genau richtig, grad so, als würden sie im nächsten Augenblick zerspringen.
Tatsächlich ist klirrendes Glases das optische und akustische Leitmotiv des Films: Es blitzt in den Diamanten, von denen sich die Hauptfiguren die Erlösung von ihrer Schuld erhoffen. Es glitzert in dem Fenster, durch welches ein Räuber stürzt. Es funkelt in jedem kristallklaren Bild dieses, ausschliesslich mit Digitalkamera gedrehten Films. Und wenn die Erzählung zu einem ihrer vielen Zeitsprünge ansetzt, klingt es auf der Tonspur, als würde man den Klang einer zerbrechenden Scheibe rückwärts abspielen. Doch es hört sich nur so an, als könnten die einzelnen Flashbacks den Scherbenhaufen wieder zusammensetzen. «Im Maklergeschäft» so redet Andy bei seinem Dealer vor sich hin «geht die Rechnung immer auf. Immer ist das Total die Summe aller Teile. Aber mein Leben fügt sich nicht zusammen. Nichts verbindet sich. Ich bin nicht die Summe meiner Einzelheiten. Die Teilen ergeben keine Einheit … kein wirkliches Ich» Wie heisst es doch in «Alice im Wunderland»: «Humpty Dumpty sat on a wall, Humpty Dumpty had a great fall, All the King’s horses and all the King’s men, Couldn’t put Humpty together again.»
Das Leben aller Figuren liegen in Scherben. Und beim Versuch die Bruchstücke zusammenzufügen, zerschneiden sie sich die Finger. Wenn Andy einmal – das einzige mal – vor seiner Frau Schwäche zeigt und schluchzend zusammenbricht, zeigt die Kamera die beiden, nebeneinander sitzenden Personen niemals in einem Bild. Genau zwischen den Ehepartnern verläuft die Kante des Kameraauschnittes und macht so klar, dass auch sie sich nicht zu einer Einheit verbinden, dass sie auf immer getrennt bleiben durch Brüche. Es sind solche Szenen, in denen Lumet und sein Kameramann Ron Fortunato beweisen, wie souverän sie Bilder zum sprechen bringen können. Wer freilich Virtuosität nur sieht, wo sie sich eitel aufspielt, wird den visuellen Stil dieses Films für unspektakulär halten. Dabei zeigt sich auch im Optischen die Perfektion erst in der Reduktion. Wenn die Kamera sich immer wieder um die Figuren dreht, sie einschliesst, einkapselt, aus ihrem Umfeld optisch herausbricht, tut sie es unmerklich, unsichtbar für die meisten. Die Stimmung aber, die von solchen Bildern erst erschaffen wird, versteht jederman.
In dem die Kamera – im konkreten wie übertragenen Sinne – hinter die Figuren fährt, vermag sie deren Tiefe auszuloten. Das ganze Leben wird gezeigt. Doch ein Leben in Scherben. Und so bleiben auch in Lumets Film Einzelteile sinnigerweise verloren. Bruchstücke der Biographie, die erklären würden, woran die Personen kaputt gegangen sind, bleiben ausgespart und die Zukunft von jenen, die nicht den gewaltsamen Tod finden, bleibt offen. Lumet ist nicht n hermetischer Vollständigkeit interessiert. Er lässt Lücken offen und damit liegen die schartigen Scherbenränder frei, auf dass sich der Zuschauer an ihnen schneide. «Before the Devil Knows You’re Dead» sticht, ritzt sich ein. So wie die besten von Lumets Filmen. Vor drei Jahren erhielt der Regisseur einen Ehrenoscar fürs Lebenswerk, als Entschädigung für all die Male, bei denen man ihn bislang übergangen hat. Nun hat er, der sein Können längst nicht mehr beweisen muss, mit 84 Jahren noch mal ein Meisterwerk gemacht. «Von diesem Regisseur kann man gar nicht genug Aufhebens machen» schrieb Truffaut schon nach dessen Debut. Das gilt nach wie vor.