Neue Zürcher Zeitung 22.09.2007, S. 54 ✺
Das Lichtbild ist ohne dessen Gegenteil nicht zu haben: Die Blende im Projektor skandiert den kontinuierlichen Strom bewegter Bilder so, dass man bei jeder Kinovorführung eigentlich die Hälfte der Zeit im Dunkeln sitzt. Vielleicht braucht es gerade diese Zeit im Finstern, damit Kino seine Wirkung entfalten kann. So besteht jedes Filmbild aus zwei Teilen: aus ihm selbst und der im Dunkeln aktivierten Erinnerung daran.
Kino ist ein Mnemo-Apparat. Exakt in dieser Weise versteht und praktiziert der Schriftsteller, Philosoph und Regisseur Chris Marker, dem das Xenix in den folgenden Tagen eine kleine Hommage widmet, das Kino: als Gedächtniskunst. In seinem Kurzfilm «La Jetée» von 1962 reist ein Mann in die Vergangenheit, auf der Suche nach einem Bild seiner Kindheit. Doch hat sich ihm dieses Bild des Glücks nur wegen des Abgrundes, der darauf folgte, des Tods, so eingeprägt. Ein unheimlicher Widerspruch in sich: Das Bild erinnert den Reisenden ans eigene Sterben.
Markers Langfilm «Sans Soleil» von 1983 beginnt ebenfalls mit einem Erinnerungsbild aus der Kindheit, das der folgende Film unablässig (und vergeblich) einzuholen versucht. Eine Stimme aus dem Off liefert den Text dazu, der nicht das zu Sehende kommentiert, sondern andere, mentale Bilder evoziert. Das Erinnern als Entdeckungsreise – so könnte man das Thema dieser beiden Filme auf eine paradoxe Formel bringen. Das Vorbild dabei, auf das Marker sich in beiden Filmen bezieht, ist Alfred Hitchcocks «Vertigo», den das Xenix ebenfalls in ihr Marker-Programm aufgenommen hat. Neben inhaltlichen Versatzstücken, die zitiert werden, ist es dabei die Konstruktion von Hitchcocks Film, an die Marker sich anlehnt: So zerfällt nämlich «Vertigo» in zwei Teile, wovon sich jeweils der eine als Traum oder Erinnerung des andern interpretieren lässt – und dies in beiden Richtungen der Zeitachse.
Marker betreibt dieselbe Dialektik, doch seine Filmtechnik spiegelt noch offensichtlicher als bei Hitchcock den Mechanismus der träumenden und sich erinnernden Psyche: Verdichtung, Verschiebung, Ellipse und Zeitschlaufen – mit diesen Werkzeugen hantiert Chris Marker virtuos wie kaum ein Zweiter. Besonders aber insistieren seine Filme auf der konstitutiven Lücke, auf jener Dunkelheit, welche die Bilder und Geschichten zwar stocken lässt, aber zugleich intensiviert; so montiert der Regisseur in seine Filme immer wieder Schwarzbilder oder hält die Tonspur unvermittelt an. «La jetée» hatte Markersogar aus lauter Standbildern zusammengesetzt – eine Art Fotoroman fürs Kino. Die Bedeutung der einzelnen Bilder, aus denen der Filmstreifen besteht, und die Wichtigkeit des dunklen Raums, der zwischen ihnen klafft, wurden dabei umso deutlicher hervorgehoben. Nur einmal taucht zwischen den starren Bildern ein bewegtes auf: Es zeigt eine blinzelnde Frau. Das menschliche Augenlid – ist es nicht wie jene Blende des Projektors, durch dessen Verdunkelung die eben noch gesehenen Bilder erst ihre Nach- und damit ihre volle Wirkung erfahren? So laufen Chris Markers Filme auch bei geschlossenen Augen weiter.
© Johannes Binotto