Neue Zürcher Zeitung, 09.09.15, S. 43 ///
Die Stadt ist eine Erfahrung – auch im wörtlichen Sinne. Das weite, ausufernde Los Angeles, so wird einem von seinen Besuchern berichtet, erschliesst sich nur dem, der es im Auto durchquert. Erst in der Fahrt verdichtet sich die disparate Stadtgeografie zum Bild. Vielleicht liegt gerade darin und nicht nur im Umstand, dass die amerikanische Filmindustrie hier zu Hause ist, der eigentliche Grund für die anhaltende Affinität des Kinos zu Los Angeles, wie sie nun eine Filmreihe des Kinos Xenix schlagend vorführt. Als Stadt, welche ihre Flaneure zur motorisierten Bewegung zwingt, ist Los Angeles selber schon kinematisch.
Die Autokinos, welche man in Peter Bogdanovichs selbstreflexivem L.-A.-Film «Targets» noch sieht, mögen unterdessen verschwunden sein, in Wahrheit aber ist die ganze Stadt ein Drive-in-Theatre und jede Windschutzscheibe ein Screen. Wenn der namenlose Fahrer aus Nicolas Winding Refns «Drive» durch die Strassen von Los Angeles kurvt, ohne Herkunft und ohne Ziel, keinem anderen Prinzip gehorchend als jenem Trieb, der schon im Titel steckt, ist er ebenso Verkörperung der posturbanen Grossstadt, die kein Zentrum kennt, wie auch des Filmapparats, der nichts will, als immer weiterzulaufen.
Kein Wunder, sind in dieser Stadt auch die Schnüffler des Film noir zu Hause. Sherlock Holmes konnte seine Fälle noch lösen, ohne überhaupt aus dem Lehnsessel aufzustehen. Er war die literarische Figur par excellence, tat er doch selber nichts als lesen: Spuren und Indizien. Die Privatdetektive in Los Angeles hingegen denken in Bewegtbildern. Sie müssen aus ihren Fällen Filme machen, um sie lösen zu können.
Nicht umsonst zeigt die erste Aufnahme von Robert Aldrichs «Kiss Me Deadly», wie eine Frau über den Strassenasphalt hetzt, während der Detektiv Mike Hammer seine zukünftige Mandantin beinahe umfährt mit seinem Wagen.
Alles ist in Bewegung, von Anfang an. Und wenn danach der Vorspann schräg über die Leinwand läuft, sieht es aus, als würden wir mit dem Auto unter dem Text hindurchbrausen.
«Kiss Me Deadly», der exemplarische Film noir, erweist sich denn unweigerlich auch als exemplarisches Porträt der Stadt Los Angeles, die er mit fast schon dokumentarischer Exaktheit zu seinem Schauplatz macht. Doch in dieser Stadt, die immer schon Kino ist, kommt über die Strassen von L. A. Aldrichs Film am Ende zwangsläufig auch bei sich selbst und seiner eigenen Medialität an: Wenn in der berühmten Schlussszene die Gangsterbraut den Koffer mit der Beute öffnet, kommt daraus nichts als ein alles verschlingendes Gleissen heraus. Der geheimnisvolle Koffer enthält eine Lichtmaschine, wenn man so will: ein Filmprojektor.
Vierzig Jahre später wird Quentin Tarantino in seinem «Pulp Fiction» diese Szene schamlos kopieren, und auch sonst hat sein Film offensichtlich von den Bewegungsbildern Aldrichs gelernt. Die Irrfahrten durch die Stadt in «Kiss Me Deadly» greifen bei Tarantino endgültig auch auf die Narration seines Films über, die sich verzweigt, überkreuzt und ausfranst wie das Strassennetz von Los Angeles. Das kann schliesslich so weit gehen, dass sämtliche Orientierung verunmöglicht wird, so wie in David Lynchs «Mulholland Drive», wo analog zu den Windungen der besagten Strasse alles unentwirrbar ineinandergefaltet ist: Albtraum und Realität, Komödie und Psychothriller, Haupt- und Nebenfigur.
In seinem grandiosen Found-Footage-Film «Los Angeles Plays Itself», im Xenix endlich als Premiere zu sehen, ist der Regisseur und Filmtheoretiker Thom Andersen diesen Widersprüchen der eigenen Stadt nachgegangen, indem er die gesamte Kinogeschichte nach den Bildern absucht, die sie uns von Los Angeles geliefert haben, und sie konfrontiert mit seinem eigenen Blick auf die Stadt und deren Geschichte. Der Exeget wird dabei selbst zu einem Film-noir-Helden auf der Suche nach dem Wesen der Metropole hinter den von Hollywood fabrizierten Fassaden.
Etwas unaufrichtig ist es einzig, wenn Andersen meint, den Filmen ihre Ungenauigkeit und Idealisierung vorwerfen zu müssen, grad so, als wäre es dem Kino nicht seit je um mehr als um blosse Mimetik gegangen und als wäre Los Angeles neben realem Ort nicht immer schon auch pure Fantasie gewesen.
Dafür führt Andersen uns in bisher kaum je besuchte Regionen der City, wo sich in der horizontalen Ausdehnung auch das soziale Gefälle radikal verändert. «Er wirbelt hinaus in den Raum der Welt, gezwungen, sich auf seiner Suche nach Spuren unablässig von einer sozialen Realität in die andere zu bewegen», so schreibt Frederic Jameson über die Figur des L.-A.-Detektivs.
Welch anderen sozialen Realitäten man dabei begegnen könnte, zeigt vielleicht am eindrücklichsten der lange vergessene «The Exiles» von Kent MacKenzie aus dem Jahr 1961. Es ist die Chronik eines nächtlichen Streifzugs einer Gruppe junger Indianer durch das mittlerweile verschwundene Quartier Bunker Hill, auf der Suche nach einem besseren Leben jenseits der Reservate. Neorealistisch in Ton und Optik zeigt «The Exiles» nicht nur ein ganz anderes Los Angeles mit anderen Bewohnern, als man es sonst zu sehen bekommt. Es ist auch der erste L.-A.-Film, der es wagt, die Stadt zu Fuss zu erkunden.
Die übliche Erfahrung der Stadt durch die Windschutzscheibe hindurch zeigte nur eine Seite. Es gibt noch ein anderes Los Angeles, eine andere Welt, jenseits der vertrauten. Wenn in Michael Manns Thriller «Collateral» der durch die Nacht treibende Killer in seinem Taxi an einer Ampel halten muss, huscht unversehens ein Kojote über die Strasse. Wenn die Fahrt stockt, wird der Blick frei für anderes.
Der Kojote erinnert an eine Wildnis nicht nur ausserhalb, sondern auch innerhalb der Stadt. Eine Wildnis, die wir noch immer nicht gesehen haben. Die Stadt bleibt ein Dschungel.