Neue Zürcher Zeitung, 6.2.2015, S. 19 ✺
Von der Kritik gerne despektierlich als blosses Unterhaltungskino abgetan, besteht der Reiz und auch die Klugheit von Luc Bessons Filmen gerade in ihrer unbändigen Lust am visuellen Spektakel. Eine Retrospektive des Kino Xenix lädt ein, sich auf den Augenschmaus einzulassen.
In Luc Bessons jüngsten Streich, dem überdrehten Science-Fiction-Action-Experimental-Film «Lucy» sitzt eine dank Wunderdrogen all ihrer Sinne mächtige Scarlett Johansson auf einem Bürostuhl und lässt vor sich die Weltgeschichte Revue passieren. Als wäre die Umgebung ein iPad wischt die Superheldin durch den Raum und sich selbst damit rückwärts durch die Zeit, lässt Manhattan zurückbauen und jene Indianer, denen man die Insel am Hudson mal für sechzig Gulden abgeluchst hatte, wieder auftreten. Aber auch die Ureinwohner wischt sie fort, bis sie beim ersten Menschen überhaupt anlangt, den sie dann, wie einst Gott seinen Adam in Michelangelos berühmtem Bild sanft mit der Fingerspitze berührt und damit das Filmbild endgültig zum Explodieren bringt. Die Szene in ihrer ganzen Exzessivität liesse sich gut auch als „Selbstportrait des Zuschauers bei Luc Besson“ betiteln, denn natürlich ist die Protagonistin, die da staunend auf die rasant sich verwandelnde Welt vor ihr blickt nur ein alter ego von uns Kinogängern, die wir ebenfalls in unseren Sitzen kleben, während vor unseren Augen das grosse Spektakel vorüber zieht. Und zugleich ist jene Lucy, wie es ihr Name ja schon ankündigt, nur das weibliche Double jenes Luc, der hinter der Kamera steht und ebenfalls imstande ist, die sichtbare Welt mit einem Handstreich auseinanderzunehmen und neu zusammenzusetzen.
Wenn man dank bewusstseinserweiternder Drogen fähig würde, seine Hirnfähigkeit restlos zu nutzen, müssten sich Zeit und Raum auflösen und der Mensch würde zu einem gottähnlichen Wesen – so lautet die Ausgangsthese von «Lucy». Mit Neurowissenschaft hat das freilich nichts zu tun, mit Kino aber umso mehr. Die steigenden Prozentangaben, die im Verlauf des Films jeweils als Zwischentitel eingeblendet werden, beziehen sich nur schienbar auf die zerebralen Fähigkeiten der Hauptfigur, sondern vielmehr auf die Möglichkeiten des Mediums selbst. Was Besson anstrebt ist gerade nicht volle Gedankenfülle, sondern vielmehr 100% Kino, reine Attraktion aus der jede Erzähllogik herausgefiltert wurde.
Er sei ein Effekthascher, heisst es über den französischen Filmemacher, der 1983 mit seinem bildgewaltigen Apokalypsenfresko «Le dernier combat» auf die Filmbühne tritt und zwei Jahre später Frankreich mit dem New-Wave-Untergrund-Spektakel «Subway» den Kultfilm der Achtziger beschert. Fragt sich nur, ob diese Bezeichnung wirklich jener Vorwurf ist, als der er gemeint wird.
Steht nicht die Effekthascherei überhaupt am Beginn der Filmgeschichte, verkörpert in Pionieren wie dem Kinozauberer Georges Méliès, für den hanebüchene Stories von Mondreisen und lebenden Spielkarten nur Vorwand waren, um sein Publikum mit möglichst verblüffenden Ansichten zu verzaubern? «Kino der Attraktionen» hat der Filmtheoretiker Tom Gunning diese Anfangszeit genannt und damit darauf hingewiesen, dass die ursprüngliche Faszination des Films nie in seinen Erzählungen, sondern vielmehr in seinen Effekten bestand. Auch Luis Feuillades Schauerkrimis aus den Zehner Jahren um den Superschurken «Fantomas», die Verbrecherbande «Les Vampires« oder den Rächer «Judex» opferten jede narrative Logik den möglichst verrückten Bildern und wurden gerade dafür von den Surrealisten so geliebt. Diesen Anfängen ist Besson näher als es die Kritiker zugeben wollen. Wenn in seiner Zukunftsvision «The Fifth Element» die extravaganten Kostüme von Jean-Paul Gaultier wichtiger scheinen, als die Beweggründe derer, sie tragen, setzt Besson nur fort, was schon der immer neu sich maskierende Fantomas praktizierte: das Subjekt ist eine Oberfläche.
Mit Besson‘s «cinéma du look» findet das frühe französische Kino der Attraktionen seinen Erben und war Feuillade einst Chefregisseur bei Gaumont, so wurde diese älteste noch tätige Filmproduktionsstätte der Welt mit Besson wieder zu den ganz Grossen. Bessons «Le Grand Bleu» über den mythischen Ringkampf zweier Tiefseetaucher darum, wer von ihnen sich noch tiefer im Meer versenken mag, wird zum Publikumsschlager. Ein Augenschmaus in blauschillerndem Cinemascope und mit Figuren die sich noch an Land bereits wie unter Wasser bewegen: In der Zeitlupe verwandeln sich die Männer in mythische Urwesen. Sie sind fleischgewordenes Pathos, so wie der schweigsame Auftragsmörder Léon im gleichnamigen Film, mit Jean Reno, der hier die Rolle seines Lebens spielt. Der Profikiller, der nicht lesen und schreiben kann, ist weniger Person als vielmehr Prinzip, reiner Trieb, der sich seinen Weg bahnt. Zugleich verkörpert die menschliche Tötungsmaschine jene andere Maschinen, die ihn überhaupt erst erschaffen haben: Kamera und Projektor. So wie der Filmstreifen immer weiter durch den Apparat laufen muss, damit die Illusion des bewegten Bildes nicht zusammenbricht, so zeigt auch Besson seine Figuren, all die einsamen Wölfe und Wölfinnen, heissen sie «Nikita» oder «Léon», «Angel-A» oder «Lucy» am liebsten elegisch den Raum durchschreitend, wie eine unwiderstehliche Naturgewalt, die alles aus dem Weg räumt. Wer sich da über mangelnde psychologische Tiefe beklagt, hat nicht verstanden, dass er hier keinen Menschen zusieht, als vielmehr dem Medium selbst, dass von Natur nichts anderes will, als einfach immer weiter machen, weiter laufen, weiter gehen.
«I am everywhere» verkündet Lucy nachdem sie das ganze Universum erfasst und sich einverleibt hat, so dass alsbald nur noch ein strahlend weisses Nichts bleibt. Alles nur Effekte, gewiss. Im Kino jedoch, sind Effekte Alles.
©Johannes Binotto
«Luc Besson, cinéaste excessif» bis 25. Februar, Kino Xenix (Kanzleistrasse 52) www.xenix.ch