Neue Zürcher Zeitung, 6.7.2006, S. 40 ///
Er jagte die nackte Ingrid Steeger über den Limmatquai, schickte Klaus Kinski als Jack the Ripper durchs Niederdorf und machte aus einem Xavier-Koller-Film einen Sexstreifen: Erwin C. Dietrich, der einzige Kultfilmer der Schweiz. Begegnung mit einer lebenden Legende.
In den Annalen des Schweizer Films figuriert er nur als Fussnote, und die Kritik hat ihn mit Vorliebe ignoriert. Und das, obwohl er der erfolgreichste Kinounternehmer der Schweiz, ja einer der grössten Europas ist. Erwin C. Dietrich, 1930 in Glarus geboren, ist Produzent, Regisseur, Drehbuchautor, Filmverleiher, PR-Genie und Kinobesitzer gewesen, meist alles zugleich und fast immer mit Erfolg. Dabei hat ihn der Geschmack der Presse nie gekümmert, der des breiten Publikums dafür umso mehr.
Busen statt Bond
Mit dem populären Genre des Heimatfilms fing er in den fünfziger Jahren an, und als Mitte der sechziger Jahre die Sexfilmwelle grosse Kasse versprach, wurde er ihr wichtigster Vertreter. Einen nackten Busen in deutschen Kinos zu zeigen, war indes damals noch mit rechtlichen Problemen verbunden. Nur gegen Nudistenfilme aus Schweden hatten die Behörden nichts einzuwenden, weil Nacktheit dort zum Lebensgefühl gehöre. Also reiste Dietrich samt Kamera und Darstellern nach Skandinavien, um „Nackter Norden“ zu drehen. Das war 1968 – das Jahr des Durchbruchs für Dietrich: Die ebenso freie wie freizügige Maupassant-Adaption „Die Nichten der Frau Oberst“ kam noch im selben Jahr ins Kino und lief in Deutschland und der Schweiz erfolgreicher als „Dr. Schiwago“ oder das neue James-Bond-Abenteuer.
Doch nicht bloss nackte Tatsachen haben Dietrichs Unternehmen florieren lassen, sondern vor allem seine originellen Geschäftsideen. So ist er etwa, nachdem diverse deutsche Filmverleiher Pleite gegangen und ihm so das Geld für seine Filme schuldig geblieben waren, kurzerhand selbst ins Verleihgeschäft eingestiegen. Doch statt Filme zu produzieren, die vielleicht niemand zeigen wollte, vermietete er Filme, die er noch gar nicht produziert hatte. Er habe einfach ein paar Titel auf einen Zettel geschrieben, vermarkten lassen und danach rasch den entsprechenden Film gedreht. Im Akkord hat er gearbeitet und mitunter zwei Filme in nur einer Woche schneiden müssen, weil er für Samstag bereits eine Probevorführung für den kanadischen Verleih angesetzt hatte. Auch dieses Kunststück ist ihm gelungen, mit Muskelkater in den Armen.
Betritt man heute das Büro von Erwin C. Dietrich beim Schweizer Filmverleiher Ascot-Elite, dann könnte man meinen, es herrschten immer noch jene wilden Jahre. Die Tischplatte seines Arbeitstischs ist unter Papieren, Videokassetten und DVD nicht zu sehen. Es stapeln sich Ordner mit Verträgen, Filmideen und unzähligen Anekdoten aus früheren Tagen. Etwa jene, wie Dietrich dem späteren Oscar-Preisträger Xavier Koller zu einem Sexfilm verhalf.
Koller hatte wohl ein tiefsinniges Roadmovie machen wollen. Doch weil auf dem Film nichts weiter gewesen sei als ein paar junge Leute im Auto, schlug Dietrich dem jungen Regisseur peppigere Szenen vor. Die ursprünglichen Schauspieler waren jedoch nicht mehr aufzutreiben; einer von ihnen – Christof Wackernagel – war unterdessen gar zum gesuchten RAF-Mitglied geworden. Dietrich engagierte kurzerhand eine Handvoll ähnlich aussehender Darsteller, und so wurde aus Kollers existenzialistisch angehauchtem Film alsbald die lüpfige Sexgeschichte „Mädchen, die am Wege liegen“. Schon bei einem amerikanischen Robin-Hood-Film hatte Dietrich es so gemacht: Weil im ursprünglichen Material weder Wald noch Schlösser zu sehen waren, vervollständigte er es eigenhändig mit Aufnahmen von der Kyburg, einem Reiterverein aus Winterthur und einem zweiten Robin Hood. – Dass Dietrich bei vielen seiner über hundert Produktionen selbst Regie führte, war nie ein Widerspruch zur Rolle als Produzent, sondern deren logische Fortsetzung. Warum noch einen Regisseur engagieren, wo er es doch selber schneller und damit billiger machen konnte? Dabei benutzte Dietrich als Regisseur meist das Pseudonym Michael Thomas, und als Drehbuchautor nannte er sich jeweils Manfred Gregor – nicht etwa, weil er sich geschämt hätte, sondern aus Bescheidenheit. „Wenn im Vorspann die ganze Zeit Erwin C. Dietrich steht, dann sieht das aus wie bei Charlie Chaplin, der ja auch alles allein gemacht hat.“
Wenn draussen schönes Wetter war, ging Dietrich drehen. Kurze Filmchen etwa mit der kessen Ingrid Steeger, die er 1970 für seinen Biker-Film „Ich – ein Groupie“ entdeckt hatte, wo sie unter anderem nackt über den Limmatquai bretterte. Die kleinen Episoden mit ihr, hier und dort gedreht, baute er dann jeweils in einen der nächsten Spielfilme ein, und als die Steeger aufhörte, für ihn zu arbeiten, hatte er noch immer einen Schrank voll Material mit ihr, aus dem er prompt einen letzten Film machte.
Kinski im Niederdorf
Einzig der spanische Regisseur Jesus Franco war ein ähnlich schneller Allrounder wie er. Er avancierte für einige Jahre zu Dietrichs Hausregisseur – mit einem unwahrscheinlichen Output. Wenn Franco für Dietrich im Ausland einen Frauengefängnisstreifen drehte, konnte es schon vorkommen, dass er mit einem zweiten Film zurückkam, den er nebenher noch produziert hatte. Franco war es auch, der Regie führte bei der seltsamsten aller Jack-the-Ripper-Verfilmungen: Das Zürcher Niederdorf musste für die Londoner Unterwelt herhalten, und als Serienmörder hatte man Klaus Kinski engagiert. Vom berüchtigten Kinski indes hat Dietrich keine Exzesse, sondern nur Gutes zu berichten. Ruhig, professionell und schnell habe dieser gearbeitet. Nur wenn eine Fernsehkamera oder jemand von der Presse da gewesen sei, habe er jeweils seine Show als Berserker abgezogen.
Eskapaden hat es an den Sets von Dietrich ohnehin nie gegeben, trotz noch so viel nackten Mädchen. Dafür waren die Drehpläne zu anstrengend und Dietrich trotz allem zu prüde. Als im Laufe der siebziger Jahre das Genre der harmlosen Sexfilme den unterdessen legalisierten Pornofilmen weichen musste, mochte Dietrich nicht mitmachen. Er produzierte internationale Kriegs- und Actionfilme wie „The Wild Geese“ oder „Kommando: Leopard“ und später die Nötzli-Komödien mit Walter Roderer.
Aber auch jetzt, da er nicht mehr produziert und auch seine Zürcher Kinos Capitol und Cinemax verkauft hat, mag Dietrich von Pensionierung nichts wissen. Emsig bringt er seine alten Filme auf DVD heraus, wiederum mit erstaunlichem Erfolg. Die erste Box mit Filmen des Gespanns Dietrich/Franco ging direkt an Quentin Tarantino, und Lars von Trier hat ihm persönlich geschrieben, weil er sich so über den nun endlich erhältlichen „Jack the Ripper“ gefreut hat. Die Kultfilmer von heute wissen, was sie dem alten Hasen verdanken.
Johannes Binotto