in: Coucou – Kulturmagazin Winterthur #64 (April 2018), S. 10-15 ///
Vor dem Zelt drängt sich das Publikum und reckt die Hälse beim Versuch, ein Blick von dem zu erhaschen, was innen drin wartet. Auf dem erhöhten Podium am Eingang steht ein Mann und brüllt laut die eingeübte Geschichte: Von medizinischen Wundern und Märchen-Monstern erzählt er, von Hermaphroditen und der dicksten Familie der Welt, während er mit seinem Stock auf das Banner in seinem Rücken zeigt, auf dem Figuren aufgemalt sind, in wunderlichen Kostümen und mit noch verblüffenderen Körpern. Darüber, in grossen Lettern: «Human Freaks». So ist es zu sehen auf den Fotos eines Jahrmarkts im amerikanischen Vermont im September 1941 und so ähnlich war es zu sehen und zu hören auf Zirkusplätzen und Jahrmärkten im ganzen Land. «Sideshows» wurden diese Vorführungen genannt, weil sie neben der Hauptattraktion ihren Platz fanden. Ihre Stars waren Artistinnen und Bühnenperformer wie Etta Lake, die ihre Gesichtshaut mit den Fingern ziehen konnte, als wäre sie aus Gummi oder Francesco Lentini, der sich als «Der dreibeinige Fussballspieler» ankündigen liess, Frauen mit wallenden Bärten, wie Annie Jones oder die Schweizerin Josephine Clofulli, und Männer ohne Unterleib wie Johnny Eck.
Menschen ausstellen
Dass Menschen mit aussergewöhnlichen Körpern öffentlich zur Schau gestellt werden, kennt man bereits aus der Antike und später von den Jahrmärkten des Mittelalters ebenso wie von den Adelshöfen der Renaissance. Ihren Höhepunkt und Niedergang aber fanden die Freak- und Sideshows in den Jahren zwischen Mitte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, in der Zeit vor dem Aufkommen des neuen Massenmediums des Kinos. Insbesondere der amerikanische Schausteller und Zirkuspionier P. T. Barnum, der mit Abstand einflussreichste Unternehmer der Unterhaltungsindustrie des neunzehnten Jahrhunderts, machte die Vorführung devianter Körper zum grossen Geschäft. Als er 1840 das «American Museum» in New York City übernahm und daraus eine Art Disneyland des Viktorianischen Zeitalters machte, das täglich bis zu 15’000 Zuschauerinnen und Zuschauer anzog, stellte er darin auch sogenannte «human curiosities» – «menschliche Kuriositäten» aus. Performer wie etwa Charles Stratton, der mit seinen 64 Zentimeter Körperlänge als «kleinster Mann der Welt» beworben wurde, oder die an ihrer Hüfte zusammengewachsenen Siamesischen Zwillinge Chang und Eng Bunker reisten mit Barnums Zirkus durch Europa und wurden Berühmtheiten, deren Fotografien man sich auf der ganzen Welt herumreichte. Aber auch in jedem kleineren Wanderzirkus fuhren neben den üblichen Attraktionen «lebende Kuriositäten» mit – wobei man sich nicht selten mit Tricks behalf, um mit Schminke, Kostümen und Prothesen die Schausteller noch erstaunlicher aussehen zu lassen. Zudem wurde die Attraktionen unterstützt von als Doktoren verkleideten Ausrufern, die pseudowissenschaftlichen Lügengeschichten über angebliche «Urmenschen und Tierwesen» erzählten.
Möglichkeiten der Ermächtigung
Zweifellos ist die Geschichte der Sideshows eine der Ausbeutung und des Missbrauchs, in der Darsteller und Artistinnen zuweilen in fast Sklaverei-ähnlichen Verhältnissen gehalten wurden. Und doch wird dieser Geschichte nicht gerecht, wer nicht auch ihre Kehrseite sieht. Das Phänomen der Sideshow ist ein hochgradig ambivalentes, in dem sich Unterdrückung mit Ermächtigung verblüffend mischt. Denn so sehr auch die Wanderzirkusse und Kuriositätenshows gegenüber dem Publikum ihre Performer wahlweise als «Monster» oder «Naturwunder» verkauften, so erlangten nicht wenige dieser Artistinnen und Artisten gerade aufgrund ihrer Arbeit im Zirkus einen Grad an Autonomie, wie man sie ihnen ausserhalb der Unterhaltungsbranche nie zugebilligt hätte. Ein Darsteller etwa, wie der von Barnum 1889 nach Amerika gebrachte «Snake Man» Prince Randian, der weder über Arme noch Beine verfügte und zu dessen diversen Kunststücken gehörte, dass er alleine mit seinem Mund seine eigenen Zigaretten rollen und anzünden konnte, wurde in Amerika zum eigenständigen und durchaus wohlhabenden Geschäftsmann und Familienvater. Und der in seinem Gesicht ganz mit dichtem langen Haar bedeckte Stefan Bibrowski wollte in seiner Rolle des «Lionel – the Lion-Faced Man» nicht etwa das Mitleid, sondern den Respekt des Publikums, indem er es durch sein aristokratisches Auftreten und seine Bildung beeindruckte.
Congress of Freaks at Ringling Brothers and Barnum & Bailey Circus 1924; zu sehen sind unter anderem Artist_innen wie Stefan Bibrowski als „Lionel“ (obere Reihe, ganz rechts); William Henry Johnson als „What is it“ (obere Reihe, zweiter von links); Martin Laurello als „Human Owl“ (untere Reihe, vierter von rechts) oder Dora Gutterman als „Madame Krao, the Bearded Lady“ (untere Reihe, dritte von links).
Das mag denn auch erklären, warum es nicht zuletzt die «Freaks» selber waren, die sich so vehement dagegen wehrten, dass «Sideshows» als Unterhaltung immer mehr verpönt wurden. Während man aus heutiger Perspektive das Verschwinden der Sideshows einzig als aufklärerischen Fortschritt verkennt, bedeutete er für die Künstlerinnen und Künstler selbst vor allem ein Verlust an Autonomie und ein Rückfall in Abhängigkeit. Es ist kein Zufall, dass der Niedergang der Sideshows in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Erstarken einer Ideologie der Eugenik und der «Rassenhygiene» zusammenfällt, die ihren schrecklichen Höhepunkt in den Verbrechen des Nationalsozialismus finden wird. Menschen mit besonderen Körpern, die sich zuvor auf der Bühne präsentierten, werden fortan als «Behinderte» in Heimen und Krankenhäuser vor der Öffentlichkeit weggesperrt. Und dass Menschen wie Prince Randian oder die ohne Arme geborene Artistin Frances O’Connor in Zukunft gar nicht erst auf die Welt kommen können, soll dereinst die pränatale Diagnostik sicherstellen. So tritt an die Stelle der oft ausbeuterischen Sideshows nicht selten einer noch viel grössere Menschenverachtung, die alles, was von der Norm abweicht nicht mal mehr bestaunen, sondern nur noch ausmerzen möchte.
Sich zeigen
Umso bemerkenswerter bleibt ein Film, wie Tod Brownings «Freaks» von 1932, in dem einige der berühmtesten Sideshow-Darsteller ihrer Zeit auftreten und dabei nicht bloss als kuriose Objekte, sondern als Menschen gezeigt werden. Vielleicht war es gerade die Vehemenz, mit welcher der Film sich mit den Aussenseitern identifiziert, welche die damalige Kritik so schockiert hat und weswegen der Film über Jahrzehnte immer wieder verboten wurde. Dass die eigene körperliche Besonderheit nicht ein Makel ist, den zu verstecken und zu negieren gilt, sondern den man präsentieren und feiern darf, führen auch die Fotografien von Diane Arbus vor. Riesen und Kleinwüchsige, Verrenkungskünstler und schwertschluckende Albino-Frauen präsentieren sich, nicht verschämt, sondern voller Stolz und Selbstbewusstsein. «Ja, sieh mich an! Ich bin besonders und schön», scheinen die Menschen uns zu sagen, während sie in Arbus’ Objektiv blicken, schnurgerade. Wer findet, das dürfe man nicht zeigen, verrät damit wohl vor allem, wie grausam eng die eigenen Vorstellungen davon sind, was Teil der Gesellschaft sein dürfe. Schliesslich wirft man auch Supermodels nicht vor, dass sie ihre aussergewöhnlichen Körper, die ja genausowenig der Norm entsprechen, öffentlich zur Schau stellen. Dass heute in Coney Island, dem Rummelplatz von New York, wo einst die Kuriositätenkabinette gastierten, nicht nur ein Museum steht, sondern dort auch täglich Sideshow-Bühnenprogramme vorgeführt werden, verstehen die auftretenden Artistinnen und Artisten darum durchaus auch als politisches Statement: als Plädoyer für Diversität.
Publicity Still zu FREAKS (USA 1932) von Tod Browning
Überwindung der Gegensätze
Was die Betrachterinnen und Betrachter damals wie heute an Freaks so schwer zu ertragen finden, so argumentiert die Philosophin Elizabeth Grosz, ist die Tatsache, dass mit ihnen all jene sonst so klaren Abgrenzungen in Frage gestellt sind, mit denen wir gemeinhin operieren. All die dualen Gegensätze auf denen unsere Kultur insistiert, etwa die Trennung zwischen männlich und weiblich, zwischen Menschen und Tieren, zwischen Ich und Anderem werden durch die uneindeutigen Körper niedergerissen, welche sich in der Sideshow präsentieren: die bärtige Frau und der doppelgeschlechtliche «Victor-Victoria», der «Junge mit der Alligatorhaut» und «Percilla, das Affenmädchen» – sie alle fügen sich nicht in die ordnenden Raster der Eindeutigkeit. Was die Freaks so grundlegend in Frage stellen, ist mithin nichts weniger als unser eigenes Selbstverständnis. Vielleicht aber ist es gerade das, weswegen die Beschäftigung mit der Geschichte der Sideshows auch heute so relevant ist: weil sie unsere begrenzten Vorstellungen von Schönheit und Identität sprengt und uns jene Ambiguität und Widersprüchlichkeit bewusst macht, die wir alle in uns tragen. Und die uns erkennen lässt, dass auch jene angeblichen Unstimmigkeiten unserer Körper, die wir glauben kaschieren, wegtrainieren oder operativ entfernen zu müssen, eigentlich von einer besonderen Schönheit sind.
So ist die Lektion, die aus der Geschichte der Sideshow zu ziehen wäre, nicht, dass die sogenannten Freaks normale Menschen wie Du und Ich sind, sondern vielmehr umgekehrt: dass die angeblich normalen Menschen, dass Du und Ich in Wahrheit Freaks sind.