Neue Zürcher Zeitung 02.12.2014, S. 19 ✺
Sir Alec Guinness, der wohl grösste Charakterdarsteller, den das britische Kino je hatte, reagierte mit einer Mischung aus Irritation und Amüsiertheit darüber, dass er als 65-Jähriger noch zum Teenager-Idol wurde. Er hätte auch ein wenig beleidigt sein können. Als weiser Laserschwert-Guru Obi-Wan Kenobi aus den «Star Wars»-Filmen war er in den späten Siebzigern jedem Kind in Amerika bekannt geworden, doch dass er zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine dreissigjährige Kino- und eine noch längere Theaterkarriere blicken konnte, schienen seine neuen Fans nicht zu wissen.
Bonds strenge Chefin
Dame Judi Dench, seit 1988 ebenfalls wie einst Guinness mit Adelstitel versehen, kennt das Problem. Auch bei ihr droht das breite Publikum zunächst vor allem an nur eine ihrer vielen Rollen zu denken: M, die gestrenge Vorgesetzte James Bonds. Und wie streng sie war: In ihrem ersten Bond-Film, «Golden Eye», beschimpfte sie 007 schon bei der allerersten Gelegenheit als Relikt im letzten, «Skyfall», zögerte sie nicht, jenen Schiessbefehl zu geben, der Bond das Leben zu kosten scheint. Dass die ganze Welt sie als M kennt, ist zwar einseitig, ungerechtfertigt aber ist es nicht. Mögen ihre Auftritte neben Bond auch viel zu kurz gewesen sein, eine eiskalte Zynikerin so nuanciert zu spielen, das muss man erst einmal können! In jeder Sekunde merkt man ihr an, dass sich hinter der harten Fassade noch ganz anderes abspielt. Judi Dench kann es. Konnte es schon immer, wie sich in der schönen Retrospektive überprüfen lässt, die ihr das Xenix anlässlich ihres achtzigsten Geburtstages widmet. Anfangs in der Theatertruppe des legendären Old Vic, zu der einst auch Alec Guinness gehörte, avanciert sie Mitte zwanzig zur vielleicht wichtigsten Shakespeare-Interpretin ihrer Zeit, die buchstäblich alles gespielt hat, was der Dichter an interessanten Frauenrollen geschrieben hat. Zuschauer von einst haben sich denn auch bis heute nicht von ihrer Verkörperung etwa der wahnsinnigen Lady Macbeth erholt.
Da nimmt sich ihr späterer Gastauftritt in Kenneth Branaghs Shakespeare-Verfilmung «Henry V» ob seiner Kürze fast schon wie eine ironische Geste aus. Denn Dench selbst war einst Branaghs Regisseurin gewesen in einer Inszenierung von Shakespeares «Much Ado About Nothing», aus welcher dieser dann später all die Ideen für seine Verfilmung geklaut habe, wie Judi Dench ihren einstigen Zögling kürzlich foppte.
Shakespeare-Instanz
Dame Judi bleibt die Shakespeare-Hoheit. Auch darum ist ihre Besetzung in John Maddens «Shakespeare in Love« so treffend: als ironische Elizabeth I., vor welcher der ganze Hof zittert. Noch furchteinflössender aber ist sie als verbitterte Lehrerin in «Notes on a Scandal», wo sie grausam und hinterlistig das Schicksal einer Kollegin in die Finger nimmt. Es ist, als habe der Regisseur Richard Eyre erneut die ganze Bandbreite ihrer Virtuosität zeigen wollen. Denn erst fünf Jahre zuvor hatte Judi Dench in seinem Film «Iris» in der Rolle der an Alzheimer erkrankten Schriftstellerin Iris Murdoch bereits alle Register gezogen.
So bestechend sie dort den Kontrollverlust spielt, so präzis mimt sie in «Notes on a Scandal» die Durchtriebene, die uns in ihr Netz zieht. Da nimmt sich die Szene aus ihrem frühen Film «He Who Rides a Tiger» von 1965 fast prophetisch aus: Dort befreit sie zusammen mit dem rüden Ganoven, der sie umgarnt, ein Füchslein aus einer Hasenfalle. Mag sein, dass die Zuschauer damals noch meinten, das Füchslein sei ein Sinnbild für Denchs Figur. Doch natürlich war es umgekehrt. Die Schauspielerin hat uns nie mehr freigelassen. Wir bleiben gefangen von ihrem Können. Vielleicht steckt denn auch hier die Lösung für das Rätsel um ihren Rollennamen in den Bond-Filmen. Angesichts von Judi Dench kann die enigmatische Abkürzung M doch eigentlich nur für eines stehen: Meisterschaft.
Zürich, Kino Xenix, bis 17. Dezember 2014.