Zeit nehmen. Und geben. Warum lange Filme mehr als nur lang sind

Programmheft Kino Xenix (Januar 2019) ///

In den Statistiken von Youtube wird ein Filmclip bereits als «gesehen» verbucht, wenn wir User blosse zehn Sekunden darauf hängen geblieben sind. Und bei Facebook ist der Leitwert sogar noch tiefer: bei gerade mal drei Sekunden. Die Plattformen spiegeln damit unsere allgemeine Konzentrationsschwäche und bewirtschaften sie aktiv. Denn ausdauernde Betrachtung ist ökonomisch unrentabel, weil man in der Zeit, in der man bei etwas bleibt, doch mindestens fünf andere Sachen auch noch hätte machen können. Statt die Aufmerksamkeit zu fokussieren, gilt es also, sie möglichst breit zu verteilen, damit schneller mehr konsumiert werden kann. Auch Produkte werden bereits entsprechend gestaltet: Musik, die die Masse erreichen soll, wird so komponiert, dass sie bereits bei einem dreissigsekündigen Vorhören auf iTunes attraktiv genug wirkt, und sie wird so abgemischt, dass sie problemlos auch mit nur einem Hörer im Ohr eingängig bleibt. Wer Filme auf dem Laptop schaut, scrollt bei den vermeintlich langweiligen Szenen schnell weiter oder beantwortet im nebenan aufpoppenden Programmfenster die eingehenden Nach-richten. Aufmerksamkeitsverkürzung und Multitasking sind Normverhalten.
Umso grösser ist darum heute die Provokation, wenn ein Film sich das zu nehmen getraut, was wir angeblich immer weniger haben, nämlich Zeit. Verschwenderische siebeneinhalb Stunden dauert beispielsweise SATANTANGO (1994) des ungarischen Regisseurs Béla Tarr über das Dorfleben im Niedergang und bringt damit nicht nur das Publikum, sondern auch den Kinobetrieb an den Rand des Kollapses: Wie soll man Tickets verkaufen, wenn sämtliche Vorstellungszeiten eines Kino bereits mit einem einzigen Film belegt sind? 
Und auch ein Film wie Lav Diaz’ NORTE, THE END OF HISTORY (2013) mit seinen langen, insistierenden Einstellungen wird zur physischen Herausforderung. Zwar gehört diese an Dostojewski angelehnte Geschichte um drei Personen, die in ihren ausweglosen Lebensumständen gefangen sind und denen auch eine brutale Verzweiflungstat nicht aus der Sackgasse hilft, mit seinen vier Stunden Laufzeit noch zu den kürzeren Filmen von Diaz. Aber auch hier stellt sich die Frage: Wie geht man mit solchem «slow cinema» um, bei dem man kaum anders kann, als während der Vorstellung den Saal zu verlassen, um etwas zu essen, mit jemandem zu sprechen, eine zu rauchen oder doch zumindest aufs Klo zu gehen? Für den Regisseur Lav Diaz selbst sind freilich all diese Aktivitäten, die sonst als Verstoss gegen das «richtige» Kinoverhalten gelten, nicht nur erlaubt, sondern durchaus willkommen. Und tatsächlich ist es gerade das, was die langen Filme so faszinierend macht: dass sie mir auch den eigenen Körper und die eigenen Sinne neu bewusst machen. Wie es sich anfühlt, stundenlang auf einem Sessel zu sitzen, wie ich den Kopf halte, wie ich mich bewegen muss, die Muskeln lockern muss, wie ich einnicke, aufschrecke, einschlafe, wieder aufwache, die Augen schliesse, abschweife, aufstehe, rausgehe, wieder reinkomme, nicht folgen kann, den eigenen Gedanken nachhänge, mich von der Handlung packen lasse, von den Bildern ergreifen lasse, in ihnen versinke, mich selber vergesse, mich verliere – im Film. Man müsse für NORTE, THE END OF HISTORY gleichsam den eigenen Seh-Metabolismus komplett neu einstellen, hat der Filmkritiker A. O. Scott geschrieben. Welch grössere Ambition kann ein Film haben?
So lässt sich gerade anhand der langen Filme endlich das Kino wieder neu entdecken als das, was es eigentlich von Anfang an war: Labor unbekannter Erfahrungen. Der Kinosaal als Ort, wo unsere gewohnte Wahrnehmung nicht einfach bestätigt, sondern radikal erweitert wird. Doch wenn der Reiz des Kinos lange der war, dass es uns das Geschehen der Welt in idealisierter und das hiess: in verkürzter, geraffter und beschleunigter Form widerspiegelte – «mit all den langweiligen Teilen rausgeschnitten», wie es Hitchcock formulierte –, dann liegt heute, wo die Beschleunigung zur Norm geworden ist, das Wunder des Kinos vielleicht gerade in seiner Fähigkeit zur Verlangsamung und zur Ausdauer.
«Im Zoo von Manjur soll es einen Elefanten geben, der den ganzen Tag einfach nur dasitzt. Die Leute kommen dorthin und sehen ihm beim Sitzen zu. Sie halten ihm etwas zu fressen hin, aber er ignoriert sie», so heisst es zu Beginn von Hu Bos einzigem Film – eine Anekdote, welche denn auch den Filmtitel AN ELEPHANT SITTING STILL inspiriert, aber darüber hinaus als faszinierende Metapher für lange Filme schlechthin gelten kann: Die Menschen, die den sitzenden, sich ihnen verweigernden Elefanten betrachten, erleben etwas, was sich der schnellen Zusammenfassung entzieht. Erst mit Geduld zeigt sich das, was sich nicht rasch anklicken, nacherzählen oder vorspulen lässt, sondern Zeit braucht, um sich zu entfalten. So wie Richard Linklater seinen Film BOYHOOD über zwölf Jahre hinweg drehen musste, um das Aufwachsen seines Protagonisten Mason wirklich zu zeigen, so braucht im Gegenzug ein komplexer Dokumentarfilm wie Abbas Fahdels HOMELAND (IRAQ YEAR ZERO) die Laufzeit von fünfeinhalb Stunden, damit auch wir selbst etwas davon erleben, wie sich das Zeitgefühl des zwölfjährigen Haidar angesichts der traumatischen Erfahrung des Krieges verwandelt.
Eine so unerhörte Kinoerfahrung ist denn auch nicht zu verwechseln mit jenem Nonstopkonsum, wie wir ihn uns bei Serien angewöhnt haben. Denn obwohl wir auch dort durchaus Stunden am Stück zuschauen, folgen wir dabei meist doch jener allzu vertrauten Häppchenlogik, in der wir uns von Episode zu Episode und von Cliffhanger zu Cliffhanger hangeln. Auch wenn wir noch so viel Zeit mit solchem binge-watching verbringen – unsere Wahrnehmung von Zeit wird dabei kaum verändert, sondern höchstens ausgetrickst. Wie viel verrückter ist demgegenüber ein scheinbar so simples Experiment wie in James Bennings CALIFORNIA TRILOGY, deren Filme jeweils aus nur 35 unbewegten, je zweieinhalb Minuten dauernden Einstellungen bestehen. Gerade aber weil die Einstellungen alle exakt gleich lang sind, wird einem die Veränderlichkeit von Zeit hier körperlicher klar als in jedem noch so gut ausgestatteten Science-Fiction-Film. Zweieinhalb Minuten können im Nu vorbeigehen oder sich scheinbar bis in die Unendlichkeit ausdehnen, können übervoll sein oder blendend karg. Langsames Kino, so machte uns Benning klar, braucht nicht nur Zeit, sondern gibt sie auch. Der lange und langsame Film fährt ein – und zwar so krass, dass all die teuren Spezialeffekte, mit denen man sonst versucht, das Filmerlebnis eindrücklicher zu machen, im Vergleich dazu nur noch lächerlich wirken. Wer indes Filme nur noch auf Bildschirmen sieht, hübsch gezähmt und klein gemacht, als Infofenster unter anderen, der hat keine Ahnung, wie überwältigend Kino sein könnte. Mit jeder Faser erleben können wir seine verrückten Zeitreisen nämlich nur, wenn wir uns ihnen tatsächlich und von Anfang bis Ende aussetzen, mit jener Konzentration, wie wir sie nur im Dunkel eines Kinosaals erreichen können. (Johannes Binotto)