Neue Zürcher Zeitung, 8.7.15, S. 15 ///
Meisterschaft zeigt sich im Detail. Es gibt in Hayao Miyazakis Film «Kiki’s Delivery Service» eine unscheinbare Szene, da steht die Titelheldin, die kleine Hexe Kiki, mit ihrem Freund Tombo am Strand, als dessen Clique mit einem Auto vorfährt. Während Tombo geht, um sich mit seinen Kameradinnen zu unterhalten, bleibt Kiki eifersüchtig am Strand zurück. So wie sie ist auch der Zuschauer überzeugt, dass die verwöhnten Schnepfen im Auto gewiss lästern werden über die kleine Hexe. Tatsächlich aber reden die vermeintlichen Konkurrentinnen nur bewundernd von diesem Mädchen, das bereits so selbständig ist und sein eigenes Geld verdient. Kiki freilich hört deren Worte nicht. Beleidigt geht sie weg, ein Opfer nicht der Böswilligkeit der anderen, sondern ihrer eigenen Unsicherheit.
Keine eindeutigen Schurken
Die Szene ist typisch für den Regisseur und Autor Hayao Miyazaki: Wo andere Filmemacher Konflikte zuspitzen und vereindeutigen, um die Hauptfigur dadurch zu konturieren, dass man ihr Opponenten gegenüberstellt, unterläuft Miyazaki solche Polarität konsequent. Seine Filme kommen denn auch allesamt ohne eindeutige Schurkenfiguren aus. Selbst die Schauergestalt Kaonashi aus dem Meisterwerk «Spirited Away», die in ihrer Wut riesenhaft anschwillt und Menschen verschlingt und mithin zu den beängstigendsten Ungeheuern gehört, die man je im Animationsfilm gesehen hat, wird im Laufe der Erzählung nicht etwa von der Filmheldin Chihiro besiegt, sondern zu ihrem Begleiter gemacht. Das Unheimliche lässt sich nicht eliminieren – man muss mit ihm leben lernen.
Das ist eine umso bemerkenswertere Lektion, als sich Miyazakis Filme erklärtermassen auch an Kinder wenden. Wer überzeugt war, Kinder seien bei Märchen auf eine unmissverständliche Einteilung der Welt in Gut und Böse angewiesen, in heimtückische Hexen da und hilfreiche Feen dort, der sieht sich von Miyazakis Kinomärchen eines Besseren belehrt. Ambivalenz muss nicht getilgt, sondern soll ausgehalten werden. Die Koexistenz – das grosse Thema von Miyazakis Werk – meint denn auch nicht nur Balance zwischen Natur und Kultur, sondern auch die Koexistenz des Schönen und des Schrecklichen. So zeigt es sich bereits in seinem apokalyptischen «Nausicaä of the Valley of the Wind», in dem die Erde nach dem letzten Krieg der Menschen von einem Wald giftiger Pilze überzogen ist. Doch, so entdeckt Prinzessin Nausicaä, das Gift der Natur ist zugleich deren Weg, sich wieder zu erneuern und wieder zum Lebensraum zu werden.
Auch in «Ponyo», einem von Miyazakis letzten Filmen, wird selbst eine alles einebnende Flutwelle gezeigt – nicht als blosse Zerstörung, sondern als Symptom eines Ungleichgewichts, das lebensgefährlich und doch an sich weder gut noch böse ist. Welcher andere Filmemacher hätte es gewagt und geschafft, über einen Tsunami einen Film zu machen, der für Kleinkinder ebenso geeignet ist wie für alle andern. Der Filmemacher mutet den Kindern mehr Komplexität zu als das Gros der Regisseure dem erwachsenen Publikum.
Stilisierte Figuren
Die stilisierten und somit auf der Oberfläche einfach anmutenden Zeichnungen Miyazakis stehen zu dieser Komplexität nur scheinbar im Widerspruch. Vielmehr macht gerade der Verzicht auf hyperrealistische Ausgestaltung die Bilder offen für differenzierte Lektüren. Das Waldwesen Totoro aus dem gleichnamigen Film ist darum für die beiden Geschwister Satsuki und Mei eine so lebenswichtige Bezugsfigur, weil sie enigmatisch bleibt. Werde er gefragt, was denn ein Totoro sei, so erklärte Miyazaki einmal, habe auch er selber keine Antwort. Totoro zählt vielmehr zu dem, was der englische Kinderanalytiker Donald Winnicott «Übergangsobjekt» nannte: ein Spielzeug, das dem Kind hilft, Situationen des Verlusts zu verwinden, so wie in Miyazakis Film die Abwesenheit der kranken Mutter. Dabei erweist sich Totoro selbst als Schwellenwesen, als zugleich anwesend und unsichtbar, ebenso Naturgeist wie Kinderphantasie. So löst Totoro denn auch nicht seelische Konflikte – er hilft sie zu ertragen. Am wunderbaren Ende des Films wird die Rückkehr der geheilten Mutter nur angedeutet, nicht aber gezeigt. Die Unwägbarkeiten bleiben bestehen und der Verlust schmerzhaft.
So sind denn noch die Happy Ends in Miyazakis Filmen von berückender Ambivalenz: In «Spirited Away» findet das Mädchen Chihiro am Ende heraus, dass der von ihr geliebte Knabe Haku der Geist jenes Flusses ist, in welchen sie einst gestürzt war. Wo in einem Animationsfilm wie Walt Disneys «The Jungle Book» die Liebe des wilden Buben Mowgli zum Bären Baloo verschoben werden muss auf ein Eingeborenenmädchen, insistiert Miyazaki gerade auf der notwendigen und zugleich unmöglichen Liebe zwischen Mensch und Natur. Statt «boy meets girl» resultiert «Spirited Away» in einer ebenso schönen wie ewig ungelöst bleibenden Paarbildung zwischen einem Mädchen und einem Fluss.
Paradoxe Liebe
So können auch in «The Secret World of Arrietty» der sterbenskranke Knabe Sho und Arrietty, die nur wenige Zentimeter grosse Tochter einer Familie von Borgern, nicht zusammenkommen. Denn definieren sich die Borger dadurch, dass sie unbemerkt von den Menschen leben und sich heimlich deren Sachen ausleihen, wäre eine gemeinsame Zukunft mit Sho für Arrietty nur möglich, wenn sie aufhörte zu sein, wer sie ist. So ist es paradoxerweise gerade die Liebe zum Anderen als Anderem, welche dazu zwingt, dass die Geliebten sich trennen müssen. Koexistenz heisst eben nicht Vereinigung, in welcher eine Seite die andere sich einverleibt, sondern bedeutet vielmehr, gerade aus Liebe einzuwilligen in den Abstand, der den einen unüberbrückbar vom andern trennt. Wo findet man derart komplexe philosophische Probleme im Kino so eindringlich und so klug formuliert? Miyazaki traute sie immer schon den Kleinsten zu. Und wurde verstanden.
©Johannes Binotto
Zürich, Filmpodium (Nüschelerstr, 11), bis 20. 9.