Filmbulletin 5.09 (2009), S. 23-24 ///
1933 betreten Gangster, als Polizisten und Häftlinge verkleidet, das Michigan City Gefängnis, um echte Polizisten zu überwältigen und echte Häftlinge zu befreien. Mit diesem grossen Coup des legendären Bankräubers John Dillinger beginnt Michael Mann seinen Film: eine furiose Sequenz, aufregend und des-orientierend gleichermassen. Denn die Konstellation soll undurchschaubar sein. Ob der Coup gelingt, hängt für die Figuren wie für den Filmemacher davon ab, wie viel Verwirrung er stiftet. Wer ist hier Ordnungshüter, wer Krimineller? Bricht man aus, bricht man ein oder beides zugleich? Ob solchen Fragen gerät man ins Taumeln. Und die Kamera von Michael Manns favorisierten Kameramann Dante Spinotti trägt das ihrige zu diesem Taumel bei: die überscharfen Aufnahmen schlingern und schwanken viel zu nah an der Aktion, und wenn das Licht ins Objektiv fällt, zerspringt die Sicht für einen Augenblick im digitalen Bilderrauschen. So hat ein Gangsterfilm über die Dreissiger Jahre noch nie ausgesehen – und gerade darin liegt die Pointe dieses Auftakts und von Michael Manns ganzem Film. Die romantischen Vorstellungen von Dillinger und seinen Kumpanen, wie wir sie vom Hollywoodkino der dreissiger und vierziger Jahre gelernt haben, stimmen nicht.
Statt an die Gangsterklassiker eines William Wellman oder Raoul Walsh erinnert der Auftakt von «Public Enemies» vielmehr an jenen in «Miami Vice», wo Michael Mann sein Publikum ebenfalls auf einen Schauplatz schupst, auf dem man sich nicht mehr zurechtfindet. Dort war es eine Disco, in der verdeckte Ermittler versteckte Kriminelle jagen, und wer was ist, blieb bis zum Schluss schwer zu beantworten.
Die Ähnlichkeit der beiden Filmanfänge ist sinnig, denn die Verbrechenswelle während der amerikanischen Wirtschaftskrise hat mehr mit unserer Gegenwart zu tun, als man zunächst annehmen möchte. Dass die Kriminalität vor siebzig Jahren stilvoller und zahmer gewesen sei, entlarvt Mann jedenfalls schnell als blosse Verklärung. Trotz den eleganten Anzügen John Dillingers: die alten Methoden sind so brutal wie die heutigen und die Kugeln einer Tommy Gun zerfetzen den Körper genauso wie die einer Pump Action. In einer Szene verwehren die Polizisten einem angeschossenen Verbrecher mit Kopfschuss die schmerzstillende Spritze. Stattdessen malträtieren sie seine Kopfwund, um noch letzte Informationen aus ihm herauszupressen. Im Kampf gegen Staatsfeinde (Public Enemies) ist auch Folter erlaubt. So überbieten die Methoden des alten FBI sogar noch jene im jüngsten «War against terrorism» – böse alte Zeit. Die Vergangenheit ist erschreckend zeitgenössisch.
Statt die Geschichte Dillingers als nostalgisches Volksmärchen zu stilisieren, zeigt Michael Mann wie an der Figur des Gangsters eine ganze Geschichte der Moderne und deren Technik hängt. «Wir haben, was die Verbrecher nicht haben», verkündet der verbissene FBI-Agent Melvin Purvis: «modern technique!» John Dillinger wird zum Exempel, an welchem das FBI unter der Führung des Technokraten J. Edgar Hoover die Modernisierung von Politik und Justiz vorführen wird. Überrascht sieht man etwa, wie die Polizei Telefone abhört und verdächtige Gespräche auf Schallplatte aufzeichnet. Der systematische Lauschangriff der amerikanischen Regierung, den man historisch auf die späten Sechziger Jahre verortet, wurde in Wahrheit bereits dreissig Jahre zuvor praktiziert. Der Kampf zwischen Polizei und Verbrechen, so machen diese erstaunlichen Details in Manns Film klar, ist nicht länger ein Duell in Augenhöhe zwischen Held und Schurke, wie man es aus den Western und dessen Abkömmlingen im Gangsterfilm kennt. Statt als Cowboy sein Lasso wirft der FBI-Agent nun ein Überwachungsnetz über das ganze Land. Und der immer zielloser über die US-Landkarte ziehende Dillinger wird sich früher oder später darin verheddern.
Mit der Kommunikationstechnologie kommt eine Waffe zum Einsatz, deren Reichweite grösser ist als je zuvor. Die ubiquitäre Aufmerksamkeit des Staates verschmilzt mit dem audiovisuellen Medium per se. So sieht man, wie in der Kinowochenschau das Porträt Dillingers gezeigt wird. Danach schaltet man das Saallicht ein und fordert das Publikum auf, sich nach den Sitznachbarn umzudrehen, um sich zu vergewissern, dass der Gesuchte nicht neben einem sitzt. Dass nach dieser Fahndungs-Durchsage ein Cartoon gezeigt wird, mag der naive Zuschauer als Auszeit empfinden, in Wahrheit aber ging auch dann die Fandung weiter: wie aus den Akten des FBI unlängst ersichtlich wurde, fungierte auch Walt Disney als Informant für J. Edgar Hoover.
So ist denn auch der scheinbare Anachronismus, dass Michael Mann sein Gangsterops nicht auf Film, sondern digital gedreht hat, in Wahrheit gar keiner. Die Dreissiger Jahre in Amerika, so wird vielmehr klar, kannten bereits jenen Techno-Totalitarismus, den wir heute erleben. Die Digitalisierung hat nur perfektioniert, was damals schon Sache war – auf beiden Seiten des Gesetzes.
Denn zeitgleich mit der Polizei erkennt auch das organisierte Verbrechen die neuen Medien als ihr Betätigungsfeld. Verwirrt muss sich John Dillinger vom Vertreter eines Chicagoer Gangstersyndikats erklären lassen, wie zwecklos es sei, Banken zu überfallen. Die Gaunerhöhle der Zukunft ist ein Grossraumbüro voller Telefone. «Was ihr bei einem Banküberfall erbeuten könnt, das nehmen wir hier mit unseren Telefonen jeden Tag ein», sagt der Unterwelts-Verwalter. «We’re in the modern age!» Auch das Verbrechen ist in der Moderne angekommen.
Zwischen Polizeiapparat und Verbrechensorganisation werden Einzelgänger wie Dillinger allmählich auf-gerieben. So einfach wie aus dem Gefängnis kommt man aus der neuen Zeit nicht heraus. Einmal nur schafft es Dillinger mit seiner Braut Billie Frechette an den Strand, jener Bild-Chiffre für Hoffnung in Michael Manns Oeuvre. Doch das Wasser, welches in seinen anderen Filmen die Schwelle zu einem neuen Leben darstellt, ist hier nicht zu sehen. Nur tiefschwarzes Nichts lauert am Horizont.
Und doch wäre es ein Irrtum, in John Dillinger den nostalgischen Vertreter des Alten zu sehen. Auch er weiss um die Macht der neuen Medien und verhält sich entsprechend. Bei einer seiner Verhaftungen posiert Dillinger mit dem Staatsanwalt, den Arm locker auf dessen Schulter gestützt, als wären sie alte Freunde. Erst dank seiner Fähigkeit für coole Posen und knackige Statements wird Dillinger zum Medienstar. Wie die Verklärung des Gangsters im Kino auch auf die Realität zurückwirkt, sind sich Dillinger und seine Kumpane bestens bewusst. «Wollt ihr meine James-Cagney-Nummer sehen?» fragt der Killer Baby Face Nelson. Dass Mafiosi sich selbst als Imitate von Leinwandhelden gerieren, wie man es in Roberto Savianos «Gomorrha» nachlesen kann, ist nicht erst eine Erscheinung der postmodernen Gegenwart. Schon Al Capone, der beim Verlassen eines Kinos verhaftet wurde, wusste um das ironische Verhältnis zwischen sich und den Leinwand-figuren. So sitzt auch John Dillinger kurz vor seinem gewaltsamen Tod im Kino und betrachtet amüsiert Clark Gable in W.S. Van Dykes «Manhattan Melodrama». Es ist der 21. Juli 1934. Als Dillinger aus dem Biograph Theatre in Chicago nach draussen tritt, versuchen mehrere Agenten ihn festzunehmen. Beim Versuch, seine Waffe zu ziehen, wird er von drei Kugel getroffen und stirbt. Wie sich die Schaulustigen am Schauplatz von Dillingers Ende versammeln, ist auf alten Filmaufnahmen festgehalten. Michael Mann inszeniert diesen Moment als unüberschaubare Massenhysterie. Und wie zuvor die Mündungsfeuer aus den Gewehren der Gangster und ihrer Widersacher flammen nun die Magnesiumblitze der Pressefotografen. So töten die Waffen der Moderne. Dillinger war ihr Opfer und ihr Held.
©Johannes Binotto