Verloren im Raum: Zu den Filmen von Michelangelo Antonioni.

Basler Zeitung, 06.06.2007, S. 7 ///

bildschirmfoto-2016-10-03-um-13-15-07Der Raum war schon da, lange vor den Menschen und er wird bleiben, wenn wir alle verschwunden sind. So könnte man versuchen, die Stimmung in Worte zu fassen, die einen angesichts der Bilder von Michelangelo Antonioni befällt.
Es ist, als hätte es der italienische Filmemacher geschafft, die Kamera dorthin zu stellen, wo kein Mensch je war, an jenen unmöglichen Punkt, von wo aus der Raum auf seine eigene Unendlichkeit starrt.
Dieses zugleich beängstigende und erregende Gefühl für die Übermacht des Räumlichen zeigt sich in buchstäblich jeder Einstellung dieser Filme: Während andere Regisseure üblicherweise eine Szene mit dem Auftritt einer Figur beginnen und mit deren Abgang enden lassen, richten sich Antonionis Bilder nicht nach den Menschen, sondern nach den Orten: Die Kamera zeigt zunächst die weite Landschaft oder das leere Zimmer, in das die Figuren erst eintreten und wenn sie den Bildrahmen wieder verlassen, geht die Kamera nicht mit ihnen, sondern verweilt im nun wieder leer gewordenen Raum. Diese Technik, die Figuren nicht zu begleiten, sondern sie ins Bild ein- und wieder austreten zu lassen, gibt diesen Filmen nicht nur ihre eigentümliche Langsamkeit und hypnotische Atmosphäre, sondern bestimmt auch ihre Handlung.
Bereits in den frühen Kurzfilmen wie dem Erstling «Gente del Po» (1943-47) über das harte Leben im Po-Delta oder «N.U.» (1948) einer Dokumentation über Strassenkehrer in Rom werden nicht Personen portraitiert, sondern Gegenden, Lebens-Räume, die nicht von den Menschen definiert werden, sondern gerade umgekehrt all jene bestimmt, die sich in ihnen bewegen.
Mit «L’avventura» von 1959 wird diese Macht des Raums vollends explizit: Eine Clique von Bekannten besucht nördlich von Sizilien eine unbewohnte Felseninsel. Als man wieder ablegen will, ist eine der Frauen verschwunden. Ihr Liebhaber und ihre Freundin machen sich auf, die Vermisste zu suchen, zunächst auf der Insel und danach in Sizilien. Doch dabei geht der eigentliche Grund ihrer Nachforschungen allmählich vergessen. Sie verlieben sich ineinander und verlieren sich schliesslich selbst in der Weitläufigkeit der Welt. Dieser «verkehrte Krimi», wie Antonioni ihn selbst nannte, stiess das Publikum vor den Kopf. Die Regiekollegen Antonionis aber waren umso mehr beeindruckt von diesem Meisterwerk, das eine ganz neue Art von Kino versprach. Ein Kino, das sich nicht nach dem roten Faden einer Handlung richtet, aber gerade in solchen Verstössen gegen die Erzählregeln zu einer neuen Wahrhaftigkeit gelangt.
Wie die Felseninsel von «L’Avventura» (die Antonioni mehr als dreissig Jahre später im traumhaften Kurzfilm «Ritorno A Lisca Bianca» nochmals aufsucht), so kreisen auch die späteren Filme immer um extreme Orte, an denen der Status von Personen und Geschichten, von Realität und Imagination in Frage gestellt wird: die einsamen Strassen Mailands in «La Notte», die verlassene Baustelle in «L’Eclisse», der stille Park mitten im Swinging London von «Blow Up», die Wüste des Death Valley in «Zabriskie Point» und schliesslich ein ganzer Reigen an Räumen im metaphysischen Roadmovie «Professione: Reporter».
Ab «Il Deserto Rosso» von 1964 kommt zu den Räumen als Radikalisierung die Farbe dazu: Monika Vitti als traumatisierte Mutter, die durch die Industrielandschaft von Ravenna irrt, ist nicht nur verloren zwischen den aufragenden Fabriken, Strommasten und Frachtschiffen, sondern wird auch von den blitzenden Farben dieses Films umzingelt: dem Grün ihres Mantels, dem Rot einer Bretterbude, dem Grau der Gassen (welches sogar die Früchte an einem Verkaufsstand entsprechend eingefärbt hat), dem aseptischen Weiss eines Hotels und dem verschlingenden Schwarz, welches plötzlich das Zimmer ihres Liebhabers erfüllt.
Es wäre falsch in dieser Überwältigung der Personen durch ihre Umgebung, durch die Räume und ihre Farben nur eine Kritik an der unmenschlichen Moderne zu sehen – wie diese Filme gerne interpretiert werden. Tatsächlich zeugt Antonionis Kino gerade von der ergreifenden Schönheit der Orte, seien dies Maschinenparks oder Sandwüsten. Bloss ist der Mensch hier nicht länger die Hauptfigur.
Wenn der Reisende in «Professione: Reporter» sich aus einer Gondel lehnt, sieht es aus, als würde er wie ein Vogel übers Wasser schweben. Doch der Traum, aus der Welt zu entfliegen, ist nur von kurzer Dauer. Bald wird auch er verschluckt werden vom Raum, wie der Fotograf von «Blow Up», der sich zum Filmschluss in Luft auflöst.
Als sich am Ende von «L’Eclisse» die beiden Hauptfiguren am gewohnten Ort treffen wollen, kommen beide nicht. Die Kamera aber ist da und zeigt während der letzte Viertelstunde des Films den verlassenen Schauplatz. Nichts ist hier zu sehen und zugleich doch die ganze Welt und der Lauf der Zeit.
Die Eklipse, von welcher der Titel spricht, betrifft nicht die Sonne, sondern den Menschen – er ist verschwunden, verloren gegangen im Welt-Raum.

Johannes Binotto