[Neue Zürcher Zeitung, 30.12.2014, S. 15]
Im Musical «Summer Stock», einem Film, den Gene Kelly eigentlich gar nicht hatte machen wollen, ist der Tänzer zumindest in einer Szene ganz sich selbst und auf dem Höhepunkt seines Könnens: Als er allein durch eine Scheune geht, werden der knarrende Dielenboden und eine herumliegende Zeitung unversehens zu Partnern, mit denen man tanzen und Musik machen kann. Die quietschenden Bretter skandieren Kellys Stepptanz, die über den Boden rutschende und alsbald zerreissende Zeitung macht einen leisen Tusch, wenn man auf ihr Pirouetten dreht.
Proletariat des Musicals
Nicht nur, dass sie eine von Kellys liebsten Szenen wurde, seine Solo-Nummer aus «Summer Stock» ist auch sonst exemplarisch für den genialen Tänzer und Filmemacher, für seinen Stil ebenso wie für sein Arbeitsethos. Endlos soll er herumexperimentiert und -trainiert haben an dieser brillanten Choreografie mit Alltagsgegenständen. Was auf der Leinwand leicht und spontan wirkt, war in Realität ein veritabler Kraftakt.
Exemplarisch aber zeigt die Szene auch, wie sich Kellys Persona von der seiner Vorgänger unterscheidet. Fred Astaire, bis anhin Inbegriff des Hollywood-Musical-Stars, verkörperte die Eleganz der Upperclass – ein feingliedriger Mann in Frack und Zylinder. Kelly hingegen sei das Proletariat. So jedenfalls hat Gene Kelly sich jeweils selber charakterisiert, wenn er auf den Unterschied zu Astaire angesprochen wurde. Tanzen – das ist bei ihm eine explosive Mischung aus Athletik und roher Muskelkraft.
Schon in einer seiner ersten Rollen im Film «Thousands Cheers» führt er es vor: Da tanzt er in groben Jeans und weissem T-Shirt – und seine Partnerin ist nicht etwa Ginger Rogers oder eine andere von Hollywoods Diven, sondern ein blosser Wischmob, dem er seine Jacke übergeworfen hat. Und wenn er in «An American in Paris» durch sein Apartment tanzt, dann stampft und tritt er dabei auch gegen den Türrahmen – Ausdruck jugendlichen Übermuts, Sinnbild aber auch für seinen unbedingten Willen, aus dem Rahmen des Üblichen auszubrechen: thinking and dancing outside the box.
Die Grenzen, die dem Filmmusical bis anhin gesteckt waren, müssen überschritten werden. In «On the Town», seiner ersten Regiearbeit gemeinsam mit seinem wichtigsten Partner Stanley Donen, hatte er bereits vorgeführt, wie radikal solch ein Ausbruch sein würde. Das Musical um drei Matrosen auf Landurlaub in New York erklärt die amerikanische Metropole selbst zur Tanzbühne. Statt im gewohnten Rahmen des Studiosets wird auf den tatsächlichen Strassen getanzt, über zehn Jahre bevor «West Side Story» dasselbe wagen wird. Der Tänzer der Zukunft kann auch ein Typ von der Strasse sein, und sein Ballsaal ist Manhattan.
Stand das Tanzen bisher unter dem Verdacht femininen Verhaltens, so wird es mit und dank Kelly zur Angelegenheit starker Männer. Zugleich aber – und das mag die von ihm begeisterten Machos überrascht haben – löst Gene Kelly das Filmmusical von seinen Ursprüngen im Vaudeville und Ballroom. Stattdessen nähert er es dem klassischen Ballett an. Die engen Shirts und Hosen, die er in seinen Nummern trägt, sind nicht nur Insignien des simplen All-American-Boy von der Strasse, sondern zugleich auch die grösstmögliche Annäherung ans Ballett-Trikot, unter dem man jede Muskelbewegung verfolgen kann. Unentwegt wird er denn auch in seinen Filmen Szenen placieren, meist gar als Höhepunkt, die sich zu reinen Tanzsequenzen entwickeln, losgelöst von allem narrativen Ballast. Die Schlussszene von Vincente Minnellis «An American in Paris» ist ein viertelstündiges Ballett, in dem Kelly zu Gershwins Musik durch die Bildwelt des französischen Impressionismus tanzt – pure Atmosphäre, allen Zwängen zum Erzählen enthoben. Und in seinem zusammen mit Stanley Donen inszenierten Meisterwerk «Singin‘ in the Rain» verwandelt sich auch die Liebesszene zwischen ihm und Debbie Reynolds in ein reines Spiel aus Bewegung und Farbe. Der berühmte titelgebende Tanz im Regen ist auch die Feier der eigenen, körperlichen Fluidität. Wie in «Summer Stock» Bretterboden und Zeitung zu choreografischen Elementen werden, lassen sich auch alle Gefühle in Tanz verwandeln. Selbst die neurotische Zerrissenheit wird zu Ballett, wenn Kelly in «Cover Girl» gegen seinen eigenen Doppelgänger antanzt.
Tänzerische Tour de Force
Die Szene war indes eine tänzerische und filmtechnische Tour de Force. Mit Doppelbelichtung und demnach in zwei Durchgängen gedreht, musste Kelly als Doppelgänger die Bewegungen auf seine eigene, bereits getanzte Performance synchronisieren – ein schier unmögliches Unterfangen und Beleg für seine enormen Ansprüche an sich und das Medium. Von seinen Filmpartnern weiss man, wie hart die Arbeit mit Gene Kelly oft war – und sieht man sich etwa sein Duett mit Donald O’Connor in «Singin‘ in the Rain» an, erkennt man, welch ungeheure Anstrengung in ihren anarchischen Faxen steckt. Der kongeniale Tänzer O’Connor vermag auch ob der grössten körperlichen Anstrengung noch zu lächeln, Kelly aber strahlt, während er seinen Körper bis zum Äussersten forciert.
So, wie er die eigene Physis weitertreibt, stösst er als Filmemacher auch die Kamera in die Choreografien hinein. Das Objektiv, so vergessen wir gerne, weil wir so gebannt sind von den Bewegungen Gene Kellys, tanzt mit. Und wenn er auf Cyd Charisse in ihrem leuchtend grünen Kleid zutanzt, ihr entgegenschlittert, tut es der Kinoapparat ebenfalls, kaum weniger virtuos. «Invitation to the Dance» – so betitelte Gene Kelly jenes Herzensprojekt – einen Film ohne Dialog, allein aus Tanzszenen bestehend –, das im Zürcher Studio 4, wo heute das Filmpodium residiert, Weltpremiere feierte. Natürlich richtet sich der Titel an alle zugleich, an die Tänzer vor der Kamera ebenso wie an die Kamera und mithin auch an den Zuschauer im Kinosaal, dessen Auge mitgenommen werden soll, in den Tanz hinein. Und doch ist dieser Titel als Slogan auch etwas irreführend. Denn bei der blossen Einladung zum Tanz hat Gene Kelly es nie belassen, sondern hat ohne lang zu fragen immer schon angefangen, zu führen, zu verführen zum Tanz – die andern, die Kamera und uns dazu.
©Johannes Binotto
Zürich, Filmpodium (Nüschelerstr. 119), bis 15. Februar.