Abstandshalter. Von Skalierungen, Schleiern, Rinnsteinen und der Frage der Distanz

im Künstlerbuch CHR.K. Journal um eine Erwartung von Jso Maeder, Vexer St. Gallen, Berlin: 2021, S. 189-197///

Nähe und Wahrnehmung stehen in kompliziertem Verhältnis zueinander. Entgegen jener gängigen Vorstellung, dass mit geringerer Distanz die Präzision der Betrachtung stetig zunimmt, wissen wir nicht zuletzt aus unseren Alltagserfahrungen, dass man von allzu nah meist noch weniger sieht als von weit weg. Wenn ich in der Kunstausstellung so eng an das Gemälde herantrete, dass die Textur der Ölfarbe und mein Augapfel sich direkt berühren, bekomme ich nicht nur Probleme mit der Museumsaufsicht, sondern werde auch Mühe haben, besagtes Bild gut zu beschreiben. Visualität hat vielmehr, was man ein „Skalierungsproblem“ nennt: Statt kontinuierlich vergrößer- oder reduzierbar zu sein, funktioniert Optik immer nur in einem bestimmten Bereich und bricht mehr oder weniger jäh ab, wenn man diesen Bereich über- oder unterschreitet. Indem wir Geräte wie Fernrohr oder Mikroskop hinzuziehen, versuchen wir zwar, diesen Bruch abzufedern und die Zone der Visualität zu erweitern. Dabei bestätigen wir mit diesen Geräten indes nur noch mehr, dass wir es immer nur mit begrenzten Geltungsbereichen zu tun haben: Mit einem Fernrohr wird man keine Moleküle betrachten wollen, und das Mikroskop eignet sich nicht
zur Hochseenavigation. Stattdessen geben uns bereits die ans Gerät geschriebenen Kenngrößen wie Vergrößerungszahl und Objektivdurchmesser die ernüchternde Auskunft, dass wie bei unseren Augen auch der Zuständigkeitsbereich des optischen Apparats immer nur ein begrenzter ist. Beste Sicht herrscht bloß von hier bis da.

Das alles wären eigentlich banale Erkenntnisse, sie gewinnen jedoch an Brisanz zu Zeiten, in der Nähe grundsätzlich als erstrebenswertes Ideal und Distanz als zu überwindender Mangel aufgefasst wird, was sich nicht zuletzt in einer ganzen Reihe von Redewendungen zeigt: Wer das Gegenüber als „distanziert“ beschreibt, meint das nie als Kompliment. Und umgekehrt erachten wir das, von dem wir sagen, dass es uns „nahegeht, alleine dadurch schon als besonders relevant.

Entgegen dieser Wertschätzung der Nähe wäre auf der Notwendigkeit von Distanz zu insistieren. Distanz, so machen uns die oben beschriebenen Skalierungsprobleme der Optik klar, ist nicht eine zu vermeidende Störung von, sondern im Gegenteil eine notwendige Voraussetzung für Wahrnehmung. So wie man einen Schritt zurück machen muss, um gut sehen zu können, gilt auch sonst für Wahrnehmung: Mind the Gap.

Genau diese Notwendigkeit der Distanz ist denn auch die grundlegende Paradoxie von Medien schlechthin… weiterlesen: