Das Verbrechen des Schauplatzes: Unheimliche Tatorte in der Fotografie.

StandIn[…]

Wie in der topologischen Figur der Möbiusschlaufe, in welcher oben und unten, rechts und links, Anfang und Ende ineinander übergehen, so verläuft man sich in den Endlosschlaufen des unheimlichen Raumes und wird so zu dessen Opfer.

Ähnlich schrieb auch Georges Bataille 1930 in seiner Zeitschrift Documents über den Raum als einen „Strolch“ und „Gauner“, der sich den Denkern und ihren Versuchen, den Raum zu abstrahieren und zu zähmen, auf ewig widersetze. Der Raum lässt sich nicht domestizieren, nicht heimisch-machen, er bleibt un-heimlich. Dieser unheimliche Raum dürfte Bataille denn auch in dem Buch X Marks the Spot interessiert haben, den er im selben Jahr und in derselben Zeitschrift rezensierte. Es ist gewiss kein Zufall, dass Bataille aus dem Band unter anderem jene Fotografie zur Illustration seines Artikels wählte, welches die im vereisten See festgefrorene Leiche des Gangster Sammy Malaga zeigt. Sowohl im Original und erst recht in der schlechten Reproduktion bei Bataille erkennt man nur allmählich zwischen den Eisschollen das Gesicht und den Anzug des Toten. Der Körper des Gangsters ist buchstäblich im Begriff, in dem Schauplatz des Verbrechens zu verschwinden, sodass von dem Tat-Ort schließlich nur noch der Ort bleibt, während die Tat in ihm versinkt. Es ist, als würde der Tatort den Gangster verschlingen und damit wird der Ort selbst zum Täter.

X Marks the Spot – der Titel des Fotobuchs verweist auf die Praxis, die Lage von Leichen an einem Tatort mit Kreidezeichen zu markieren. In dem von Bataille abgedruckten Foto wird indes die Leiche selbst zum Index. Der tote Körper ist jenes X, welches den ungleich bedeutsameren und abgründigeren Ort markiert. Statt eines Schauplatzes des Verbrechens zeigt das Foto vielmehr ein Verbrechen des Schauplatzes.

Dieselbe Verschiebung nehmen auch die Fotografien von Miki Kratsman und Boaz Arad vor. Ihre Bilder der Schauplätze des Israelischen Unabhängigkeitskrieges von 1948 zeigen leere Wiesen, verlassene Wege, ein Basketballfeld. Es sind Bilder, denen das Objekt fehlt oder genauer: Das fehlende Objekt lauert immer noch am denselben Ort, doch in einer anderen Zeitschicht. Spuren der Gräuel, die an diesen Tatorten stattfanden, finden sich auch nicht bei genauester Inspektion der Fotografien, und gerade das macht diese Bilder so beängstigend. Die Taten sind hier gänzlich vom Ort überwuchert, ja: verdrängt worden. Doch damit wird erst die Sicht frei auf den Raum und seine Unheimlichkeit.

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In: Urs Stahel (Hrsg.): Darkside II – Fotografische Macht und fotografierte Gewalt, Krankheit und Tod. Göttingen: Steidl 2009. S. 104-110.

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