in: Kunstverein Hannover (Hg.): Christoph Girardet & Matthias Müller: Tell Me What You See, Nürnberg: Verlag für Moderne Kunst 2014, S.118-120. ///
…no organ is constant as regards either function or position…sex organs sprout anywhere…rectums open, defecate and close…the entire organism changes color and consistency in split-second adjustments…
William S. Burroughs: Naked Lunch.
Der Körper gibt sich zu spüren in seinem Versagen. Am deutlichsten fühlt man ihn immer dann, wenn er an seine Grenzen gerät, man diese gar überschreitet. So ist jede Verletzung nicht bloss Bedrohung, sondern zugleich auch Versicherung der eigenen Physis. Das ist auch die paradoxe Logik des Ritzens, wie es Jugendliche zuweilen praktizieren: das Ritzen der Haut, die Verletzung der Körperoberfläche wird als beruhigend empfunden, als Moment der Gewissheit darüber, dass der Körper Substanz hat. Doch tritt diese Geborgenheit gerade dadurch ein, dass man die Stabilität dieses bergenden Körpers bedroht.
Lebenswichtige Wunden
Doch ist dies ganz allgemeim die verblüffende Widersprüchlichkeit des menschlichen Körpers: er braucht Risse und Löcher um zu funktionieren, Öffnungen über die er Nahrung aufnimmt und wieder ausscheidet, Informationen schluckt und ausspuckt. Sehen, Hören, Essen, Sprechen, Schwitzen, Scheissen – das alles geschieht über lauter Ritzen des Körpers, über eigentliche Wunden, die sich leicht entzünden, empfindlich und darum auch erregbar sind. Erogene Wunden, ohne die man nicht leben kann.
Entsprechend ist denn auch der Körper des Films beschaffen. Auch ihn schneidet man, um ihn so zum Leben zu erwecken. Dabei ist dem Film diese Dialektik von Verletzung und Verlebendigung bereits auf basalster Ebene eingeschrieben, steckt ihm gleichsam in den Eingeweiden: Schon der Filmstreifen ist perforiert damit die Zahnräder hineingreifen können, Bild- und Tonspur sind voneinander separiert und zwischen allen Einzelbildern klaffen lauter Lücken. Auch die Bewegtheit der Bilder, von dem die Motion Pictures ihren Namen haben, stellt sich nur ein, wenn man den Film skandiert, immer wieder unterbricht, 25 mal pro Sekunde. Denn damit auf der Leinwand der Eindruck kontinuierlicher Bewegung entstehen kann, muss der Film diskontinuierlich durch den Apparat laufen, immer wieder angehalten und unterbrochen von Blende und der ruckelnden Zahnradmechanik des Malteserkreuzes. Lebendig wird das Filmbild somit nur, wenn es von der Maschine zerhackt wird. Und dieses Gemetzel, welches sich auf der filmischen Mikroebene abspielt, setzt sich fort in der Montage ganzer Filme. Auch die erzählten Filmgeschichten entwickeln sich erst dadurch, dass man Schneidetisch Szenen auseinandernimmt und neu zusammenfügt. Die Schere sei ein Produktionsmittel, heisst es bei Sergej Eisenstein.
Im gängigen Begriff des «Zusammenschneidens» finden wir diese Widersprüchlichkeit verdichtet: Die Schere schafft Zusammenhänge. Wo man schneidet tun sich neben den Lücken, zugleich auch Verbindungen auf. Die Wunde tut Wunder.
Unentwegt führen uns die Filme von Matthias Müller und Christoph Girardet diesen paradoxen Vorgang vor, indem sie den ohnehin schon von Wunden, Schnitten, Löchern und Narben übersähten Korpus der Filmgeschichte nehmen, ihn zerteilen und neu zusammenschneiden, in Filmen die ebenso grausam wie liebevoll, brutal und zärtlich zugleich sind. Der düstere Romanheld Victor Frankenstein hatte sein Wesen aus bereits toten Gebeinen zusammengeschustert; Müller und Girardet hingegen trennen die Stücke ihrer Werke aus noch lebenden Filmkörpern heraus, müssen in akribischer Recherche zuerst all die feinen Glieder und Organe in diesen Filmkörpern aufspüren und dann freilegen. Ein flatterndes Augenlid da, eine zitternde Hand dort, ein Knistern, ein Hauch, ein Rascheln. Aus diesen Gliedern, die noch zucken und pulsieren nähen sie ihre neuen, unmöglichen Filmwesen zusammen, in denen die Körper der Kinogeschichte eine faszinierende neue Existenz führen. Und die Filmemacher selbst entpuppen sich damit als Chirurgen, ähnlich jenen Ärzten aus ihrem Film «contre-jour» und mit dem flackernden Lichtpult als Seziertisch.
Ein neues Fleisch
Besonders der Film «Cut» nimmt sich in diesem Zusammenhang wie das grosse Manifest aus, welches Müllers und Girardets Praxis des ebenso gewaltsamen wie schöpferischen Zusammenschneidens auf sämtlichen Ebenen anwendet und dabei reflektiert. Aus unzähligen Aufnahmen geschlagener, geschwollener, geschnittener, gestochener Körper, schneiden die Filmemacher einen neuen unberechenbaren Leib zusammen, der blutet und schaudert, klappert, tropft, schwitzt und eitert, schwillt und schwelt. «Long Live the New Flesh» hiess es im verstörenden Spielfilm «Videodrome» des kanadischen Regisseurs David Cronenberg, dessen Körperbilder auch in «Cut» aufflackern. Auf dem Operationstisch von Müller und Girardet wird ein Körper geboren, der sich aller Absehbarkeit und Vertrautheit gehäutet hat, ein unberechenbarer, in Konvulsionen und Schocks verzückter Leib – neues Fleisch.
Über den Maler Francis Bacon hat Gilles Deleuze geschrieben, dieser verwandle in seinen Bildern den Körper in eine «Ununterscheidbarkeitszone», wo das Gesicht vom Kopf abgezogen wird, damit das blosse Fleisch darunter sichtbar werde, das Tier im Menschen, das Werden unter der Hülle des Seins.
Müller und Girardet gehen noch weiter. Nichts ist ihren Filmkörpern fremd: Deren Glieder stammen aus organischem und anorganischem Material gleichermassen, Mischgewebe. Schon in den ersten zwei Einstellungen von «Cut» verbinden sich die Röntgenbilder vom Kopf der kleinen Regan aus «The Exorcist» mit den verwachsenen Ästen eines Baumes. Krabbelnde Ameisen im Sand sehen aus wie Haare in der Haut und umgekehrt. Der Nagellack ist wie Blut und das Blut nur Farbe. Im «fluiden Universum» des Films, so hat der Philosoph Edgar Morin festgehalten, besitzt die menschliche Figur keinen höheren Rang als all die anderen Objekte, welche sich filmen lassen. Ob menschliches Antlitz oder Gegenstand, die Kamera macht aus beidem Filmbilder, von denen das eine nicht lebendiger ist als das andere.
In ihrem Film «Manual» schneiden Müller und Girardet die Bilder einer Hand auf nackter Hand zusammen mit den Bildern, wie jemand nach weichem, silbernen Kunststoff greift. Doch die Schnitte geschehen so schnell, dass sich in den trägen Augen des Betrachters, Fleisch und Plastik verbinden, ineinander fliessen, bis es einem schlecht wird. Und so verschneiden die Filmemacher auch in «Cut» unentwegt die Körper der Figuren mit den Körpern der Dinge: Das Gerinsel unter der Haut trifft zusammen mit dem Bild von Infusionsschläuchen im Krankenzimmer; Wasserhähne tropfen, wo Wunden tropfen müssten; Brandwasser ergiest sich über Blüten. Einmal wird ein Kissen aufgeschnitten und man wundert sich, dass keine Eingeweide hervortreten. Doch zuzusehen, wie die graue Füllung herausquillt ist mindestens so schlimm. Selbst der Teppich scheint zu bluten und wenn eine Frauenhand ihre Strümpfe zerreisst, ist es, als würde sie sich mit ihren Nägeln die Haut abziehen. So weit hat uns dieser Film gebracht: über alle Grenzen unserer Körperwahrnehmung hinaus. Wir sehen Leiber überall – in allen Dingen.
Cinephilie, Fetischismus
Freilich ist dieses Zusammenschneiden des Disparaten bei Müller und Girardet immer auch ein Durcharbeiten der Filmgeschichte. In den «Ununterscheidbarkeitszonen» ihrer Filme kollidieren Epochen, Genres, Techniken und Verfahren auf ungeahnte Weise. So führt in «Cut» das im Wind wehende Schilf aus Kaneto Shindōs «Onibaba» zu den frisch geschnittenen Haaren von Nicolas Cage aus «Face/Off». Wo bei Hitchcocks «The Birds» Benzin ausfliesst, brodelt in Dario Argentos «Profondo Rosso» das Wasser in der Badewanne. Die Filme von Müller und Giradet sind somit immer auch Vexierspiele für den Cinéphilen, der all die vielen Ausschnitte zu widerzuerkennen versucht. Doch zeigen sie dabei auch, wie ambivalent diese Lust am Kino eigentlich ist. Denn indem der Cinephile sich an filmischen Details begeistert, die es ihm erlauben, noch im obskursten Film Momente erhabener Schönheit zu finden, zerteilt er in Wahrheit das filmische Objekt der Begierde. So wie Truffaut in seinem Film «La nuit américaine» als Kind die Aushangbilder im Kino klaut, so ist auch der Cinephile einer, der Eindrücke aus den Filmen reisst und damit jene Kunstwerke, die er angeblich so verehrt, in diesem Liebesakt zerschneidet und verstümmelt. Der Cinephile ist nichts anderes als ein Fetischist, der Partialobjekte geniesst: die Lippen der wahnsinnigen Nonne aus Michael Powells «Black Narcissus», oder die zitternden Hand mit dem Zündholz aus «Fahrenheit 451», der sonnenverbannte Bauch aus Fassbinders «Martha».
Naht
Und wenn ein Film wie «Cut» dem cinéphilen Betrachter manche Bilder verwehrt, die er hätte erwarten können – das zerschnittene Auge von Buñuel und Dali oder den Duschenmord aus «Psycho» – so nur, weil die Filmemacher genau wissen, dass diese ikonischen Bilder ohnehin schon im Kopf ihrer Zuschauer herumgeistern, ohne das sie noch tatsächlich gezeigt werden müssten. In den Schwarzbildern, die immer wieder den Film unterbrechen und die sich damit wie Verbreiterungen jener Ritze ausnehmen, die ohnehin zwischen jedem Filmbild klaffen, hallen selbst noch die ungezeigten Bilder nach, wie ein Phantomschmerz, der einen Glieder fühlen lässt, die längst amputiert worden sind. Oder aber Müller und Girardet nähen solche Wunden zu mit Bilder-Prothesen, die indes das Fehlende nur noch spürbarer machen, wie etwa die Ameisen in der Hand, die eben nicht aus «Un Chien Andalou» sondern aus «Phase IV» von Saul Bass stammen.
Dieser Akt des Nähens, der in «Cut» denn auch explizit gezeigt wird, etwa wenn eine Stickerei repariert und eine chirurgische Operation ausgeführt wird, ist so paradox wie das Schneiden. So wie der Filmschnitt Zusammenhänge erschafft, so kann umgekehrt das Vernähen von Filmstücken nicht über die zwischen ihnen sich auftuenden Lücken hinwegtäuschen, ganz im Gegenteil. Es ist die Eigenschaft der Naht, eine Wunde zwar zu schliessen, zugleich aber wird die Verletzung durch eben diese Naht auch markiert und hervorgehoben. Wo immer eine Narbe sichtbar ist, da muss einst eine Lücke geklafft haben. Und auch die Nadeln selbst, die doch das Gewebe reparieren sollten, können dies nur, indem sie selber immer neue Löcher stechen. So bewahrt sich die Wunde in der Naht, während im Schnitt Kohärenz entsteht. In diesem paradoxen Pulsieren, eines immer neu sich schliessenden und wieder auftuenden Körpers, besteht das Wesen dieser zusammengeschnittenen Filme. In diesen filmischen Leib eingenäht und ausgeblutet auch wir Zuschauer.
1 Vgl. Sergej M. Eisenstein: «Béla vergisst die Schere.» (1926). In: Helmut H. Diederichs: Geschichte der Filmtheorie. Frankfurt a. M. 2004. S. 257-264.
2 Gilles Deleuze: Francis Bacon – Logik der Sensationen. München: Fink 1995, S. 19-22.
3 Edgar Morin: Le Cinéma ou l’homme imaginaire. Essai d’anthropologie. Paris: Editions de Minuit 1978.