[in gekürzter Version und unter dem Titel „Am Ende geht das Licht an: Plädoyer für ein Kino der Barmherzigkeit“ erschienen in: filmdienst 12 (2016), S. 28-31.]
Ernsthaftigkeit zeigt sich, wo es schonungslos zur Sache geht. Wahrheit kann nicht anders als weh tun. So zumindest scheinen all jene Kritiker überzeugt, welche die Unversöhnlichkeit eines Films als Beweis nehmen, für dessen hohen Anspruch. “Große Regisseure sind Visionäre, und Visionäre sind unbarmherzig” so hat die Schauspielerin Isabelle Huppert über Michael Haneke gesagt und tatsächlich werden Regisseure wie er oder auch Lars von Trier und einst Ingmar Bergman, gerade für die Unerbittlichkeit ihrer Filme bewundert. In der eisernen Konsequenz, mit der sie die Hoffnungen ihrer Figuren (und auch die unseren) als blosse Illusion zu denunzieren und demontieren verstehen, beweisen sie ihre Meisterschaft als Filmautoren. Unbarmherzigkeit wird zum Gütesiegel, an dem man die ernste Kunst im Gegensatz zur blossen Unterhaltung erkennen kann.
Barmherzigkeit hingegen gerät in solcher Perspektive alsbald in den Verdacht, eine blosse Kapitulation vor dem kitschigen Massengeschmack zu sein. Wo der Film derart Kompromisse eingeht, kompromittiert er sich damit unweigerlich. Und wo ein Filmemacher den Charakteren gar ein Happy End zugesteht, diese verachtenswerteste aller Hollywood-Konventionen, hat er endgültig jeden Anspruch auf Seriosität verspielt und belegt, dass er vom Kino offenbar nicht mehr erwartet, als naiven Eskapismus, Marke Traumfabrik.
Was aber, wenn diese Logik, welche einzig in der Unerbittlichkeit künstlerische Konsequenz, im barmherzigen Festhalten an der Hoffnung indes nur eine billige Lüge sehen kann, nicht vielleicht selbst eine zutiefst naive ist? Das Kino der Unerbittlichkeit, welches sich viel darauf einbildet, die Hoffnungslosigkeit der Welt bis zu ihrem bitteren Ende auszubuchstabieren, ist naiv, gerade in diesem Anspruch, uns die ganze, traurige Wahrheit zeigen zu wollen. Die Wahrheit nämlich, lässt sich nie ganz sagen, so betont es der Psychoanalytiker Jacques Lacan in seinem Seminar “L’envers de la psychanalyse”, und wo man sie gleichwohl ganz zu sagen versucht, ist es nicht die Wahrheit. Vielmehr lässt sich die Wahrheit einzig in Form eines „mi-dire“ angehen, mittels eines stotternden „Halb-sagens“. Nicht umsonst sind es für die Psychoanalyse ja gerade jene Formen des Sprechens, die keinen Anspruch auf volle Glaubwürdigkeit erheben können, wie das Stottern, der Versprecher, aber auch der Traum oder der Witz, in denen die Wahrheit des Subjekts mit Vorliebe aufscheint. Wahr ist dieses halbe Sprechen, weil auch die Wahrheit des Subjektes nie eine ganze ist, sondern in sich widersprüchlich und zerrissen. Die Wahrheit ist “pastout”, wie Lacan sagen würde: Die Wahrheit ist ein „Nicht-Alles“. Damit insistiert der Psychoanalytiker auf einer grundlegenden, nie ganz einzuebnenden Kontingenz des Lebens. Unsere Existenz ist nicht vollständig determiniert, sondern besitzt eine fundamentale Offenheit.
Es ist genau diese Offenheit, von welcher das tragische Denken nichts wissen will. In den unerbittlichen Tragödien, wie etwa in Sophokles’ “König Ödipus” verläuft das Schicksal der Figuren einer fugenlosen Kausalkette entlang, in der sich jede Hoffnung nur als Illusion erweist und jeder Versuch, das Schicksal abzuwenden, dieses nur noch zwingender herbeiführt. Und so tut auch das tragische Kino der Unerbittlichkeit so, als würde es bereits das Ende kennen, so wie Lars von Trier den Weltuntergang bereits am Anfang von “Melancholia” vorwegnimmt. Hier filmt einer, der alles bereits im Voraus zu wissen glaubt und weiß, dass es keine Rettung geben kann.
Das Kino der Barmherzigkeit hingegen, indem es seinen Figuren die Hoffnung und mithin einen Ausweg aus dem scheinbar Unabänderlichen lässt, beharrt bis zum Filmschluss darauf, dass auch das scheinbar offensichtlichste Ende noch nicht feststeht. Das Kino der Barmherzigkeit ist eines des „Ja, aber…“ und erweist sich so, überraschenderweise, auch als ein Kino der Demut, in dem nämlich der Regisseur eingesteht, nicht alles zu wissen. Wo der Unbarmherzige den Ausgang der Dinge bereits zu kennen glaubt, hält der Barmherzige am Möglichkeitsspielraum des „Nicht-Alles“ und damit an der Hoffnung fest.
Wo ließe sich dies eindrücklicher zeigen, als bei dem amerikanischen Filmemacher John Cassavetes, vielleicht dem radikalsten Vertreter eines Kinos der Barmherzigkeit. Dabei kann man Cassavetes gewiss nicht Anbiederung beim Massengeschmack vorwerfen, noch Feigheit vor der Aufgabe, dem Zuschauer auch das zu zeigen, was dieser sich sonst gerne verheimlichen möchte. Die Art und Weise, wie Cassavetes in Filmen wie „Faces“ oder „A Woman Under the Influence“ seinen Charakteren zu Leibe rückt und mit maximaler Ehrlichkeit zu zeigen versucht, wie weh die Menschen sich machen in ihren Versuchen, miteinander zu leben, ist auch für den Zuschauer durchaus schmerzhaft. Hartnäckig ist Cassavetes Blick auf die Menschen, unbarmherzig aber ist er nie.
Am Ende seines Films „Gloria“ steht der kleine Junge Phil, dem die Mafia auf den Fersen ist und dabei nur von der in die Jahre gekommenen Gangsterbraut Gloria beschützt wurde, alleine auf einem Friedhof und spricht zu den Steinen. Er wisse, dass Gloria tot sei, sagt er. Und er möchte, dass sie es wisse, dass er es wisse. Da fährt ein Wagen in die Friedhofsallee. Eine alte Frau mit grauen Haaren steigt aus und ruft den Jungen zu sich. Es ist Gloria, maskiert mit Perücke, welche ihr der kleine Phil, während er in ihren Armen liegt, vom Kopf zieht und fortwirft. Oniristisch, traumhaft hat man dieses Happy End in seiner Unglaubwürdigkeit genannt. Cassavetes hat über diesen Schluss lapidar gemeint. „Ich habe ihn so gemacht, weil ich nicht wollte, dass der Junge leidet. Was ist das für ein Film, wenn der Junge am Schluss durchdreht? Ich wollte den Menschen, der den Jungen beschützt hat, nicht vernichten.“ Wo ein anderer Filmemacher die Figuren in ihrer Qual zurückgelassen hätte und sich diese Schonungslosigkeit als besonders konsequent hätte auslegen lassen, zieht Cassavetes gerade aus dem Umstand, dass er als Regisseur in seiner fiktiven Welt des Films Schicksal spielen kann, die genau gegenteilige Konsequenz, nämlich die, seinen Figuren barmherzig beizustehen. Zugleich ist dieses Ende auch ein Plädoyer für die Wahrheit des „Nicht-Alles“ – ein Plädoyer sogar gegen die Figuren selbst: Denn wenn Phil auf dem Friedhof zu wissen glaubt, dass Gloria tot ist, dann täuscht er sich genau so, wie wir Zuschauer. Auch wenn wir uns nichts anderes vorstellen können, als dass Gloria in ihrem letzten Gefecht mit den Gangstern umgekommen ist – wirklich gesehen haben wir den Tod Glorias nicht, wir nehmen ihn nur an. Die ganze Wahrheit können wir nicht wissen. Das Ende steht noch nicht fest. Glorias Rückkehr mag uns unwahrscheinlich vorkommen, unwahr indes ist sie deswegen noch nicht.
Auch in „The Killing of a Chinese Bookie“ zeigt Cassavetes nicht, dass der angeschossene Nachtclub-Besitzer Cosmo tatsächlich stirbt, sondern hält bis zur letzten Filmsekunde die Möglichkeit offen, dass sich dieser traurige Held einmal mehr neu verwandelt, so wie er es Abend für Abend auf der Bühne seines Clubs versucht. Und wenn sich in „A Woman Under the Influence“ die verzweifelte Mabel vor den Augen ihrer Familie die Pulsadern aufschneidet, ist das doch nicht das Ende. Ihr Mann Nick verbindet die Wunde und wenn er auf ihre Frage, ob er sie liebe, stotternd keine Antwort weiß, ist dies die ehrlichere Lieblingserklärung als all die vielen „I love you“, die ihm zuvor allzu glatt über die Lippen gingen. Der Film endet nicht mit dem unbarmherzigen Tod, sondern mit dem stotternden, dem riskanten Weitermachen, irgendwie. So kommt in „Minnie and Moskowitz“ selbst das ungleiche Titelpaar zusammen, irgendwie und gegen jede Wahrscheinlichkeit, weil beide von ihrem Willen zur Veränderung nicht ablassen, selbst dann nicht, wenn sie immer wieder erfahren müssen, wie sie in alte Muster zurückrutschen. Das Kino erbarmt sich ihrer und schenkt den beiden zum Schluss lauter wild um sie herumtobende Kinder. Dabei entspricht dieses Schlussbild weniger dem Märchen-Klischee vom „Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage“ als vielmehr jener Vorstellung von Großfamilie, wie sie Cassavetes auch in seinem Arbeitsleben immer gepflegt hat: als Ort, wo Menschen aneinandergeraten, sich reiben, finden, verlieren, Schmerzen zufügen und zusammenraufen. Dass die Kritik dieses barmherzige Ende sogleich als ironisch gebrochen abtun musste, könnte indes für eine Überforderung sprechen, die Unwägbarkeit dieses fragilen Glücks hinzunehmen. Vielleicht ist insgeheim die Unbarmherzigkeit, die keine Ausnahme kennt, sehr viel leichter zu akzeptieren, als die Offenheit des „Nicht-Alles“, der man sich immer neu stellen muss, mit jeweils ungewissem Ausgang.
Verschiedentlich hat Cassavetes auf seine Liebe zu den Film Frank Capras hingewiesen, die für ihn die größten seien, die je gemacht wurden und denen er immer habe nacheifern wollen. Dieser Verweis auf Capra, diesen unbeirrbaren Optimisten des amerikanischen Kinos, mag den oberflächlichen Betrachter verwundern, tatsächlich aber teilt Cassavetes mit Capra den selben unerschütterlichen, barmherzigen Glauben an das Individuum und dessen Möglichkeit zur Veränderung. „Wie Capra mache ich Filme über den Einzelnen, der sich gegen die Masse behauptet. Ich möchte, dass meine Filme einen wahrhaft demokratischen Geist reflektieren. Um die Welt zu verändern, müssen wir beim menschlichen Verhalten anfangen, beim menschlichen Geist, und geht es in Capras Filmen im Grunde nicht genau darum? Ich sehe ein herrliches Land, das zu Gefühlen fähig ist. Für mich ist es Capras Land und wird immer Capras Land sein.“ Dieses barmherzige Land Capras, dem Cassavetes sich zugehörig fühlt, ist freilich nichts anderes als Amerika, jenem Amerikan auch als Idee, als ein nie abschließbares Projekt. Und in der Tat erweist sich Cassavetes in seinem Insistieren auf dem Möglichkeitsspielraum der Veränderung als ein zutiefst amerikanischer Regisseur und Denker, für den gilt, was der Philosoph Stanley Cavell in Bezug auf die Ralph Waldo Emerson als „task of onwardness“ – als „Aufgabe des Vorwärts“ bezeichnet hat: „Der Aufbruch, das Sich-auf-den-Weg-machen, ist, bei all unserer Verlorenheit, worin die Hoffnung besteht und alles, worauf wir hoffen können. Es ist der Aufbruch aus der Verzweiflung, welche sonst unser Schicksal wäre.“
Am Ende von Cassavetes Erstling „Shadows“, nachdem Ben, einer der Protagonisten, von einer Gruppe Fremder verprügelt wurde, steht er alleine auf der nächtlichen Straße, die Augen hinter einer Sonnenbrille verdeckt, eine Zigarette im Mund, den Kopf hängenlassend. Und dann stößt er sich weg von der Parkuhr, an die er sich angelehnt hatte, zieht die Schultern hoch und steckt die Hände in die Taschen. Und geht weiter.
Am Ende von „Faces“, in den Ruinen einer Ehe, nachdem die Frau in die Küche und der Mann nach oben gegangen sind, zeigt die Kamera uns die Treppe in ihrem Haus. Ist das wirklich ein Symbol der Verlorenheit, wie es die Kritik gelesen hat, oder nicht vielmehr auch ein Bild voller Möglichkeiten? Man kann die Treppe jederzeit wieder hoch oder runtergehen, so wie die Treppe im Theaterstück in „Opening Nights“. Die Wege sind noch immer offen. Die Aufgabe des Vorwärts ist nicht beendet. Wir machen weiter. Mutig barmherzig.