Und doch wäre es grundfalsch, in dieser Mangelhaftigkeit der fotografischen Bilder, wie sie uns das Kino lehrt, nur einen Nachteil zu sehen. Stattdessen können im Gegenzug gerade jene Bilder, deren Leere besonders prägnant hervorsticht, in hohem Masse aussagekräftig werden. Auch dies zeigt uns das Kino: In Sidney Lumets The Verdict will der verkommene Rechtsanwalt Frank Galvin einmal mehr schnelles Geld machen mit dem Fall einer jungen Frau, die nach einer ärztlichen Fehlbehandlung nicht mehr aus dem Koma erwacht. Ohne sich weder um seine Klientin noch um die anderen Patienten im Krankenzimmer zu kümmern, zückt Frank seine Polaroidkamera, um aus verschiedenen Winkeln Bilder der Frau zu schiessen, und hält dann plötzlich irritiert inne. In einer Grossaufnahme sehen wir, wie sich die Polaroids allmählich entwickeln, danach schneidet Lumet zurück auf das Gesicht Frank Galvins, der erschüttert ins Leere starrt. Was wir hier (nicht) gesehen haben, ist nichts weniger als der Wendepunkt der ganzen Story.
Während aus der Fotoemulsion allmählich der Körper der Kranken auftaucht, hat sich noch etwas anderes herausgeschält: Der schmierige Anwalt erkennt angesichts der von ihm gemachten Bilder plötzlich seine eigene, traurige Rolle. Die chemische Entwicklung des Polaroid-fotos fällt gleichsam zusammen mit Franks psychologischer Entwicklung. So wie der Bildträger sich langsam verändert, so ist auch der Protagonist am Ende dieses Prozesses ein anderer geworden. Die komatöse Patientin ist demnach nur das scheinbare Sujet der Bilder, tatsächlich aber ist es der Fotografierende selbst, dem im Akt des Fotografierens aufgeht, was aus ihm geworden ist. Das Foto spiegelt den Mann hinter dem Apparat, er selbst sieht sich in ihm reproduziert. Indes nicht in einer mimetischen Abbildung, sondern vielmehr gerade als Abwesender und Verantwortlicher, als der, der für die Bilder geradestehen muss. Und zugleich ist es an uns Zuschauern, zu verstehen, was hier geschieht.
[…] FORTSETZUNG