in: Film-Dienst 56 (2003), 3, S. 48-51 ✺
«I love movies – it’s my whole life and that’s it»
Martin Scorsese
Jeder Künstler, der oft und gerne andere Kunstwerke zitiert, riskiert zweierlei Vorwürfe. Macht er seine Anleihen allzu offenkundig gilt er rasch als Epigone, macht er die Anleihen zu heimlich, riskiert er, als Plagiator entlarvt zu werden.
Der Regisseur Martin Scorsese hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, welch zentrale Rolle andere Filme für seine Arbeit spielen. Nach seinen eigenen Aussagen bildete das Kino gemeinsam mit dem Milieu der Mafia und der römisch-katholischen Religion jenes Dreieck in dessen Spannungsfeld er aufwuchs und auf das sich seine Arbeit auch immer wieder bezieht. Diese Wichtigkeit von Filmen, das sich bildende Bewusstsein für die Genealogien innerhalb des Kinos schlägt sich beispielsweise nieder in Scorseses Arbeit als Förderer von Filmretrospektiven und der Restauration von Filmen. Ausserdem hat diese Cinephilie zu zwei grossen Dokumentarfilmen von je vier Stunden Länge geführt: Einerseits seine persönliche Filmgeschichte des amerikanischen Kinos «A Personal Journey Through American Movies» und andererseits die Hommage an den italienischen Film «Il mio viaggio in Italia». Hinzu kommen die zwar nach blosser Legende klingenden, von seinen Mitarbeitern aber verbürgten Anekdoten wonach der amerikanische Regisseur nahezu ununterbrochen Filme schaue in seinem Privatkino. Schliesslich und vor allem aber tritt Scorseses Liebe für die Filmgeschichte in seinen eigenen Werken offen zutage. Bewundernswerterweise verkommt ihm dabei das Filmzitat weder zum zwar schmucken, aber verzichtbaren Ornament, noch lässt er seine Geschichte zu verkopften Collagen erstarren. Das Kino ist vielmehr, wie der katholische Glaube oder das mafiöse Milieu, nicht mehr und nicht weniger als ein Stoff, aus dem sich neue Geschichten entwickeln lassen. So stehen Scorseses Filme immer auch in einem Dialog mit den Filmen, die ihm vorangegangen sind. Die Zitate bilden somit einen Mehrwert, sie fügen Scorseses Filmen Bedeutungsfacetten hinzu, sie können mögliche Interpretationen anweisen oder aber auch ein bereits gefundenes, oberflächliches Verständnis wieder zerstören. Und auch umgekehrt funktioniert die Beeinflussung: Das Zitat wird in seiner neuen Verwendung zum Kommentar über den Film aus dem es stammt. Insgesamt also haben wir ein Gewebe von Bezügen vor uns, das zu analysieren ebenso lehrreich, wie unerschöpflich ist.
Es ist eine irritierend mysteriöse Szene mit der Scorsese sein Mafia-Epos «Good Fellas» enden lässt: Der Epilog des Protagonisten ist verklungen, die Geschichte zu Ende. Doch da sehen wir noch ein letztes Mal Tommy, jenen hitzköpfigen Killer, gespielt von Joe Pesci. Einen grossen Hut auf dem Kopf, feuert er mit einer Pistole frontal in die Kamera und damit mitten ins Gesicht der ihn anblickenden Zuschauer und schiesst damit diesen buchstäblich aus der Kinofiktion zurück in die Realität. Dieses so ungewöhnliche Finale findet sich in exakt gleicher Form in Edwin Porters «The Great Train Robbery» von 1903, dem ersten Film-Western überhaupt. Damit macht Scorsese gleichsam im letzten Bild noch einmal klar, in welcher Tradition sich sein Film lesen lässt. Das glamouröse und zugleich leicht schäbige Leben der amerikanischen Mafia von den fünfziger bis in die siebziger Jahre wird souverän mit den Zeiten des Wilden Westens kurzgeschlossen. Und es wird klar: Einmal mehr wurden «good old days» beklagt. Das in «Good Fellas» gezeichnete Bild des Mobs entpuppt sich als Gründermythos der italoamerikanischen Unterschicht, so, wie der Western die legendären Ursprünge des weissen Amerika umreisst. «Good Fellas» also ein melancholischer Western mit Mafiainventar. Zugleich vollzieht diese Schlussszene jedoch auch einen ironischen Bruch, einerseits natürlich dadurch, dass sie die bereits tote Figur Tommys noch einmal auftreten lässt, andererseits aber eben auch durch besagten intertextuellen Verweis: Was wir da sahen, war aller authentischen Emotionalität zum Trotz eben auch blosse filmische Illusion und ein geschichtlicher Mythos.
Verbeugung
Wer zitiert ist, ist Dieb und Liebender zugleich. Er eignet sich an, was ihm nicht gehört und offenbart gerade darin seine Bewunderung für den Bestohlenen.
Natürlich haben für Scorsese die Filmzitate auch die Funktion einer Verbeugung vor den Vorbildern: Der frühe Film «Boxcar Bertha» («Die Faust der Rebellen»), der vielleicht einzige reine Genrefilm in seinem Oeuvre ist in vielerlei Hinsicht eine liebevolle Studie über die Erzählsprache von Arthur Penns «Bonnie & Clyde» und Sam Peckinpahs «The Wild Bunch». Auch später begegnet man immer wieder kleinen oder grösseren Referenzerweisungen in Scorseses Filmen: In «Mean Streets» («Hexenkessel») sehen wir in einem Kino Ausschnitte aus «The Tomb of Ligeia» («das Grab der Lygeia») von Roger Corman, einem frühen Förderer des jungen Regisseurs. «New York, New York» ist (unter anderem) der Versuch, ein Musical im Stile der Fünfziger Jahre zu machen, in «Raging Bull» («Wie ein wilder Stier») endet der Boxer Jake La Motta als Rezitator von Marlon Barndos Monologen in «On the Waterfront» («Die Faust im Nacken»), in «The Color of Money» («Die Farbe des Geldes») rekrutiert Scorsese die Filmfigur aus «The Hustler» («Haie der Grosstadt») und in «Kundun» hat er Bilder aus Godfrey Reggios Kinomeditation «Koyaanisqatsi» geschmuggelt.
Aneignung
Doch mit einer blossen, augenzwinkernden Hommage an seine Lieblingsfilme ohne weiterführende Hintergedanken belässt es Scorsese nicht. Er ist, wie in der Malerei, ein Kopist, der von den alten Meister lernt, indem er ihre Techniken imitiert – ein veritabler Student jener Filme, auf die er explizit oder auch nur implizit verweist. Er bedient sich einer Bildsprache, die er bei den Vorbildern vorfindet und eignet sie sich an, um mit ihr die eigene Geschichte möglichst adäquat erzählen zu können. So hat er etwa die Technik jener hypnotischen Zeitlupenaufnahmen in «Taxi Driver» von den Traumsequenzen Michael Powells «Tales of Hoffmann» («Hoffmanns Erzählungen»), einem Lieblingsfilm seiner Kindheit, gelernt. Gewiss ist diese Anlehnung, ohne entsprechendes Hintergrundwissen nicht mehr als intertextueller Verweis entschlüsselbar. Stattdessen geht die entlehnte Technik gänzlich auf in der adäquaten Repräsentation jener somnambulen, paranoischen Atmosphäre, die Scorseses Film durchzieht. Der bei Powell geborgte Effekt emanzipiert sich von seiner früheren Verwendung und wird für Scorsese zum Werkzeug fürs eigene Erzählen.
In «Good Fellas» wiederum lässt Scorsese das bewegte Kinobild immer wieder zu einem Standbild gefrieren. Diese Zäsuren im Film- und Erzählfluss und ein darüber gelegter Kommentar aus dem Off dienen dazu, Wendepunkte in der Biographie der dargestellten Figuren anzuzeigen. Diese einfache Methode Schwerpunkte zu setzen, eine Methode, die zwar einerseits die Kohärenz der filmischen Illusion durchbricht, andererseits aber dadurch, dass sie sich direkt an den Zuschauer wendet, das Filmerleben noch intensiviert, hat Scorsese von den Vertretern der nouvelle vague übernommen, wie er selber bereitwillig darlegt. Die Idee, einen einzelnen Moment zu einem Tableau, einem Stand-Bild zu kristallisieren, treffen wir bereits in François Truffauts «Jules et Jim» an und wenn sich die Hauptfigur Henry Hill während der Gerichtsszene gegen Ende des Films plötzlich an den Zuschauer selbst wendet, ihn ansieht und anspricht, mag man sich an die Regelverstösse in den frühen Filmen Godards erinnert fühlen. Aber gleichwohl wird damit aus «Good Fellas» noch kein Nachzügler der nouvelle vague und der Zuschauer hat wenig mehr, als jene elitäre Freude des Eingeweihten, wenn er diese Referenz zu lesen versteht. Der formale Kniff erhält, obwohl anderen Filmen entliehen, Eigenständigkeit im neuen Gebrauch.
Crossmapping
Die beiden besagten Formen des Zitats, die Referenzerweisung aus Distanz oder die Eingliederung fremder Bildsprache ins eigene Repertoire der Erzählformen sind kaum eindeutig voneinander zu scheiden. Besonders faszinierend, aber auch ungemein komplex werden Scorseses Filme da, wo er mit den Zitaten beides gleichzeitig macht: respektvolle Hommage und selbstbewusste Aneignung zugleich. Dabei kommt es darauf an, das Zitat in den neuen Film vollständig zu integrieren ohne es vom Kontext seiner Herkunft vollkommen loszulösen. Gemeinsam mit dem zitierten Stück muss auch ein Teil des restlichen Films, ein Thema, eine Stimmung in die neue Umgebung hinübergerettet werden. Eine Verbindung entsteht zwischen zwei Filmen, ein Dialog, der die beiden Filme mit Bedeutungsfacetten anreichert, ein Mehrwert entsteht. Scorsese erweist sich gerade darin als Meister seinen Film mit dem durch Zitat herangezogenen Werk in produktiven Kontakt treten zu lassen. Er macht dann, was die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen unter dem Begriff des «crossmapping» zu fassen versucht: das Übereinanderlegen, das Verschweissen oder Verknoten von zwei (Film-)Texten, auf dass sich die beiden nun gegenseitig beeinflussen und gleichsam aufzuladen beginnen, ohne in einer blossen Synthese ihre jeweilige Eigenständigkeit einzubüssen.
Ein unterschätzter und von der Kritik gerne als Auftragsarbeit Scorseses abgetaner Film, kann hier als Erläuterung dienen: «Cape Fear» («Kap der Angst«) von 1991 ist die deklarierte Neuverfilmung eines bereits 1962 von J. Lee Thompson unter dem selben Titel (dt: «Ein Köder für die Bestie«) adaptierten Stoffes. An diesem Remake lässt zeigen, wie Scorsese einerseits immer die ihm vorangehende Verfilmung im Auge behält, um sie zugleich in seiner eigenen Interpretation zu verfremden, der alten Geschichte neue Themen zu entlocken und so aus einem scheinbar simplen Genrefilm ein komplexes Kinovexierbild schafft.
In beiden Versionen scheint die Grundvoraussetzung dieselbe: Der aus der Haft entlassene Gewaltverbrecher Max Cady terrorisiert aus Rache den, für seine Verhaftung verantwortlichen Anwalt und dessen Familie. Doch während der Vorläufer auf einem harten schwarz-weiss Kontrast von guter Famile da und bösem Verbrecher dort beruht, ist Scorseses Version hoffnungsloser. Wo im Vorgänger ungetrübtes Familienglück kolportiert wird, ortet Scorsese bereits Risse in den Beziehungen: Die pubertierende Tochter grenzt sich gegen ihre Eltern ab und die Beziehung zwischen den Eheleuten ist durch Unaufrichtigkeit und sexuelle Frustration gespannt. War Cady vormals noch externer Eindringling, wird er hier zum Symptom der internen Krise. Der Thriller wird zur Allegorie überhöht und so wird Max Cady, der in der ersten Version von Robert Mitchum noch als zu überwindender Bösewicht gespielt wurde, in der Interpretation durch Robert de Niro zum personifizierten Prinzip des Bösen, das man zwar zeitweilig zurückdrängen, nie jedoch auslöschen kann. Die ehemals heile Welt entpuppt sich in der Neubearbeitung als immer schon ausgehöhlt und morsch. Es ist darum nicht bloss scherzhaft, wenn Scorsese die Kontrahenten aus der ersten Version, Robert Mitchum als Cady und Gregory Peck als Anwalt, in seinem Remake noch einmal, aber diesmal auf vertauschten Seiten auftreten lässt. Mitchum spielt bei Scorsese den Polizeichef, der dem terrorisierten Anwalt zum unlauteren Mittel der Selbstjustiz rät, während Peck einen selbstgerechten Südstaaten-Anwalt mimt, der Max Cady vertritt. Beide behalten damit zwar ihre Charakterzüge aus dem Vorgänger, finden sie sich jedoch plötzlich auf neuen Positionen. Allein durch dieses intertextuelle Spiel zwischen seiner und der ursprünglichen Version von «Cape Fear», macht Scorsese klar, wie uneindeutig die Zuweisungen von Gut und Böse geworden sind. Die Beklemmung wird noch genauer akzentuiert durch jene anderen Anspielungen mit denen Scorsese seinen Film gespickt hat. So werfen beispielsweise auch die Werke Alfred Hitchcocks ihren Schatten auf diese Geschichte: Wie in «Marnie» verweisen auch in «Cape Fear» irreale, offensichtliche Rückprojektionen und Kulissen im Hintergrund auf die Gefangenschaft und das Ausgeliefertsein der vor ihnen agierenden Charaktere. Zitate aus «Strangers in a Train» («Der Fremde im Zug») legen eine enge Verbundenheit der Kontrahenten Cady und Anwalt nahe, wie es in Hitchcocks Film zwischen dessen Protagonisten der Fall ist. Und schliesslich stammt auch das fulminante Feuerwerk am Nachthimmel, das die erste Begegnung zwischen Cady und der Frau des Anwalts überstrahlt, aus der Liebesszene von«To Catch a Thief» – eine unbequeme Anspielung, legt sie doch nahe, dass zwischen dem Verbrecher Cady und der guten Ehefrau des Anwalts eine ähnlich knisternde Erotik besteht, wie zwischen Cary Grant und Grace Kelly in Hitchcocks romantischem Krimi.
Damit bietet Scorsese allein durch die Verwendung von Zitaten selbst die Handhabe seinen scheinbar konventionellen Thriller zum cleveren Geniestreich umzubauen.
Die Zitate werden zu Zeichen, die es zu verstehen gilt, will man über eine bloss oberflächliche Betrachtung des Films hinaussteigen. Sie sind Wegmarken, die einen jedoch nur noch tiefer in die fatalen Verstrickungen dieser Geschichte führen. «Ich weiss nicht, ob ich ihn bloss ansehen oder lesen soll» meint der Polizeichef einmal angesichts von Max Cadys unzähligen Tätowierungen. Man erinnere sich an den mordenden Priester in Charles Laughtons «The Night of the Hunter« («Die Nacht des Jägers«), der sich die Worte «Love» und «Hate» auf die Knöchel seiner Faust hat tätowieren lassen. Gespielt wurde diese Figur von Robert Mitchum und er ist es nun auch, der in Scorseses Film darauf anspielt. Eine beängstigende Kontinuität wird offenbar, die das Diesseits und Jenseits des Gesetzes kurz schliesst. Eine Kontinuität die über die Grenzen einer einzigen Geschichte hinausgeht und diverse Film-Geschichten zu einem Reigen verbindet, dem Scorsese mit seiner eigenen Arbeit eine Bühne bietet.
© Johannes Binotto