Gefühle synchronisieren: Über eine Szene aus „La Boum“

Filmbulletin 7.15, S. 44-45 ///

Bildschirmfoto 2015-12-29 um 11.30.53 KopieDie gängige Praxis der Synchronisierung, in der man die Originalsprache eines Films durch eine andere ersetzt, ist dem Cinephilen zutiefst verhasst. Zu Recht erkennt er darin einen aggressiven Eingriff in die ursprüngliche Gestalt eines Films. Doch droht man dabei zu vergessen, dass der Tonfilm immer schon auf Synchronisierung angewiesen war. Bewegtbild und Tonaufnahme, obwohl beide längst erfunden, fanden bekanntlich lange nicht zusammen. Es mangelte ihnen an Synchronität. Versuche, während der Filmvorführung ein Grammaphon mit dem passenden Soundtrack laufen zu lassen, waren unbefriedigend geblieben. Es musste der Klang erst visuell werden, um dann als optische Tonspur auf dem Filmstreifen mit den Bildern mitlaufen zu können. Und selbst dann noch war die Tonspur den Bildern immer um einen Schritt voraus. Der Filmprojektor erforderte das, weil sich in ihm die Linse fürs Bild und Tonabnehmer an unterschiedlichen Stellen befinden. So treibt die Erfahrung, dass die Koppelung von Optik und Akustik im Kino nie eine natürliche Gegebenheit, sondern vielmehr ein Effekt umständlicher Technik ist, den Film auch später um. Die Synchronität von Klang und Bild bleibt fragil und weiterhin auf technisches Gerät angewiesen.

Das eklatante Auseinanderklaffen von Sichtbarem und Hörbarem kennen indes auch jene, die von der Geschichte um die schwierige Geburt des Tonfilms und von dem Aufbau seiner Apparate nichts wissen. Synchronisierungsprobleme gehören zur normalen Kinoerfahrung, selbst dann, wenn man sich alle Filme im Original anschaut. So gehört es im Kino zur Norm, die Handlung eines Films von Musik begleitet zu hören, die von den Filmfiguren selbst offenbar nicht gehört wird. Extradiegetischer Ton, nennt sich dies in der Fachterminologie: ein externer Klang, der nicht synchron ist, mit der akustischen Wahrnehmung der Figuren. Gefühle indes, werden dadurch umso effektiver synchronisiert.

In Claude Pinoteaus Kassenschlager <La Boum> steht an einer der titelgebenden Parties die dreizehnjährige Vic am Buffet, um ein Glas Orangensaft zu trinken. Da nähert sich ihr der gleichaltrige Mathieu von hinten, der schon lange ein Auge auf sie geworfen hatte, und stülpt ihr die Kopfhörer seines Walkmans über. Schlagartig, wie bei einem Sprung auf der Platte, wird der wilde Rock’n’Roll, zu dem alle anwesenden Teenager tanzen, abgelöst von Richard Sandersons Lovesong «Reality», den einzig Vic hört. Und wir mit ihr. Es ist, als hätte Mathieu in diesem Moment auch uns Zuschauern sein Gerät aufgesetzt. Der Sound aus dem Walkman nimmt nicht nur Vics Gehör, sondern die gesamte Akustik des Films in Beschlag und übertönt alles andere. So entpuppt sich das, was wir hier hören unversehens als von extradiegetische Filmmusik und somit als merkwürdig schwankend zwischen An- und Abwesenheit, hat doch dieser externe Klang gleichwohl seine Quelle in jenem Gerät innerhalb der Filmhandlung. Die Musik kommt von hier und nirgendwo zugleich. Da und doch nicht da – so geht es auch Vic, die, kaum hat die Musik sie umfangen, ekstatisch ins Leere schaut. Von der asynchronen Musik dem Trubel um sie herum entrückt, versinkt sie sogleich und vollkommen in der aktuellen Umarmung Mathieus. Die Songzeilen indes scheinen diesen ungewissen, zwischen Entrückung und Präsenz changierenden Status der Musik und ihrer Hörerin zusätzlich zu kommentieren: «Dreams are my reality / the only kind of real fantasy / Illusions are a common thing / I try to live in dreams» – so singt Richard Sanderson. Realität und Fantasie schliessen sich nicht aus. Dass die hier erlebte «real fantasy» durchaus ein übliches Phänomen, ein «common thing», darstellt, erweist sich freilich als umso treffender, als das Gerät, welches die eigentliche Hauptrolle in dieser Szene spielt, nicht zuletzt dank diesem Film zum allseits begehrten Konsumprodukt werden sollte. Der Walkman, 1979 von Sony eingeführt und heute bereits wieder altertümliches Relikt, stellt in <La Boum> von 1980 noch eine brandneue Innovation dar. Der Film indes, analysiert die Implikationen dieses Apparats schon damals erstaunlich tiefschürfend. Und dies in nur gerade mal 40 Sekunden.

Kein Wunder nimmt <La Boum> denn auch in Shuhei Hosokawas Aufsatz «The Walkman Effect» einen zentralen Platz ein (wenngleich der Musikwissenschaftler die Szene fälschlicherweise im Nachfolgefilm <La Boum 2> verortet). Für Hosokawa beweist <La Boum>, wie Unrecht jene Pessimisten haben, die im Walkman vor allem ein Gerät der Isolierung sahen: «Walkman-Hörer müssen nicht unbedingt von ihrer Umgebung abgeschnitten sein (oder „entfremdet“, um einen wertlastigen Begriff zu benutzen), indem sie ihre Ohren schliessen. Vielmehr vereinigen sie sich – in dem autonomen und singulären Moment – mit dem Realen.» Der Walkman, gerade indem er Vic aus ihrer Umgebung herausreisst, schliesst sie dafür an jenen ominösen Bereich an, das noch über die vertraute Wirklichkeit hinausgeht. Das Gerät synchronisiert das Subjekt mit dem Realen.

Indes ist Hosokawas Deutung, Vic und Mathieu würden in diesem Moment in ihrer gemeinsamen Musik versinken, nicht ganz zutreffend. Hat er übersehen, dass Mathieu seine Kopfhörer ablegen musste, um sie Vic anlegen zu können? Die Musik, welche das Mädchen hört, kann der Junge folglich gerade nicht hören. Höchstens kann er sie sich erinnernd imaginieren. Und folglich ist auch die Synchronisierung zwischen dem jungen Liebespaar nur eine scheinbare. Prompt wird Vic am Ende des Films, wenn sie erneut mit Mathieu tanzt, über dessen Schulter hinweg bereits zu einem anderen Jungen blicken, in den sie sich als nächstes verliebt. Wer genau aufgepasst hat, sieht dieses ironische Ende in der früheren Szene bereits präfiguriert. Und doch ist deren bewegendes Pathos ganz und gar nicht falsch. Was wir in der Szene mit dem Walkman sehen, ist in der Tat eine geglückte Synchronisierung, die freilich etwas anders funktioniert als Hosokawa meint. Der scheinbar naive Film ist medientheoretisch noch viel gewitzter als der Theoretiker: Während wir zuschauen, wie Vic mit Mathieu eng umschlungen tanzt, die Musik von «Reality» in ihrem Ohr, da öffnen sich plötzlich ihre Augen und sie blickt, für einen unmerklichen Moment direkt in die Kamera und schaut uns an. Nicht Mathieu, wir sind es, mit der Vic synchronisiert ist – wir, die wir als einzige dieselbe Musik wie Vic hören. «Tell me that it’s true / feelings that are cue» Die Gefühle, die hier miteinander synchronisiert und aufeinander abgestimmt («cued») werden, sind jene zwischen ihr und uns. Dies ist das Reale, zu dem wir hier angeschlossen werden. In dieser Szene und in dem ganzen Film. Und es sind die technischen Geräte, welche diese Synchronisierung ermöglichen. Solche Geräte wie der Walkman. Oder der filmische Apparat.

La Boum  (F 1980) 00:28:45-00:29:25

Regie: Claude Pinoteau
Buch: Claude Pinoteau, Danièle Thompson
Kamera: Edmond Séchan
Schnitt: Marie-Josèphe Yoyotte
Musik: Vladimir Cosma
Darsteller (Rolle): Sophie Marceau (Victoire „Vic“ Beretton), Claude Brasseur (François Beretton), Brigitte Fossey (Françoise Beretton), Alexandre Sterling (Mathieu).