in: Viceversa. Jahrbuch der Schweizer Literaturen #10 (2016), s. 90-95 ///
In einer frühen Szene aus Luigi Comencinis „Heidi“-Verfilmung von 1952 steigen Heidi und der Geissenpeter in die Höhe, um nachzuschauen, „wo der Bach herkommt“. Oben auf dem Grat angekommen, zeigt Peter seinem Heidi nicht nur die überwältigende Natur, sondern auch wie der eigene Ruf von den sie umgebenden Bergen als Echo widerhallt. „Grossvater!“ und „Heidi!“ rufen die Kinder in die Landschaft und das Echo spricht es ihnen nach. Als jedoch der Geissenpeter in seinem Übermut auch ein Schimpfwort in die Landschaft brüllt – „dummi, blödi Schwiichatz dräckigi“ – bleibt der Widerhall aus, sehr zum Erschrecken der beiden Kinder, die glauben, das Echo erzürnt zu haben. Dieser amüsante Einfall findet sich in dieser Form nicht in der Vorlage von Johanna Spyri. Er ist eine Zutat des Films. Umso mehr aber liesse sich diese Idee vom selektiven Echo auch als unfreiwilligen Kommentar übers eigene Medium und dessen Umgang mit dem Heidi-Stoff lesen. So wie das Echo in dieser Szene, welches nicht alles reproduziert, sondern nur wiedergibt, was ihm genehm ist, so hat sich auch die Filmgeschichte als Echoraum erweisen, der den „Heidi“-Stoff ganz unterschiedlich nachgebildet hat, nie eins zu eins, sondern immer mit ganz entscheidenden Veränderungen. Doch es sind gerade diese Unterschiede in der Wiedergabe von Johanna Spyris Doppelroman, welche Heidis filmisches Nachleben erst so interessant machen. Darum ist denn auch die Frage danach, welche der Adaptionen besonders werkgetreu sei, eigentlich müssig und zielt letztlich genau an dem vorbei, was die betreffenden Filme so spannend macht. Ohnehin beweist der alte und immer wieder gerne von Leserseite erhobene Vorwurf gegen das Kino, es verfälsche in seinen Adaptionen die literarischen Vorlagen, immer nur aufs neue, wie wenig man vom Kino als eigenständiger Kunstform verstanden hat. Schliesslich wirft man auch einem Gemälde nicht vor, dass es anders funktioniert als ein geschriebener Text und so kann auch der Film wegen seiner grundlegend anderen Medialität schlechterdings nicht anders, als eine literarische Vorlage komplett umzugestalten. Wären Verfilmungen schlicht dasselbe, wie ein Roman, bräuchte es die Filme gar nicht. Mithin sind Literatur-Verfilmungen gerade nicht daran zu messen, wie nah an der Vorlage sie sich bewegen, sondern vielmehr daran, wie eigenwillig sie den Stoff dem eigenen Medium entsprechend verändern.
Eigenwilligkeiten bestimmen denn auch die „Heidi“-Filme. Dabei ist der unterschiedliche Wiederhall des „Heidi“-Stoffs im Echoraum des Kinos ist umso interessanter, als in den Verfilmungen nicht nur ganz verschiedene Aspekte von Johanna Spyris Roman hervorgehoben werden, sondern vor allem auch weil sich jeweils Anliegen, Befürchtungen und Obsessionen der jeweiligen Zeit und Kultur zeigen, in welchen die Verfilmungen entstanden sind. Der literarische Stoff wird zur Versuchsanordnung in der sich unterschiedlich experimentieren lässt. So nutzt schon die allererste Verfilmung, der amerikanische Stummfilm „Heidi of the Alps“ von 1920 unter der Regie von Frederick A. Thomson den Stoff vor allem zur Erprobung der eigenen Technik: das Alpensetting eignet sich bestens um das frühe, unterdessen in Vergessenheit geratene Zweifarben-System Prizma vorzuführen, in welchem der Film gedreht wurde. Ist Heidi im ersten Roman überwältigt von der Abendsonne, welche die Berge zum Glühen zu bringen und den Schnee zu verbrennen scheint, veranstaltet das frühe Kino seinen ganz eigenen chemischen Farbenzauber. Die darauf folgende, wiederum aus den USA stammende „Heidi“-Verfilmung Allan Dwans von 1937 wird den Schweizer Stoff schliesslich komplett den Vorlieben des klassischen Hollywood anpassen, indem er Heidi vom grössten Boxoffice-Star dieser Jahre spielen lässt: dem Kinderstar Shirley Temple. Deren Heidi mag man denn auch die vorgegebene Naivität nie recht glauben. Allzu selbstbewusst stampft Temple durch die Sets und spielt dabei vor allem sich selbst. Bemerkenswert ist indes auch, dass der Film die Geschichte expatriiert und nach Deutschland in den Süden des Schwarzwalds versetzt. Und wenn Heidi zusammen mit dem Grossvater in einem Bilderbuch blättert, folgt kurzerhand eine in Holland angesiedelte Musicalszene. Die amerikanische Perspektive lässt die Distanzen schrumpfen und die Fantasie übertrumpft jeden realistischen Anspruch. Die Landschaften, in welchen der Film spielt, sind ohnehin alle nur gemalte Kulissen. Europa wird zum Bilderbuch in dem alles von derselben putzigen Exotik ist und es von Windmühlen zu Alphütten nur einen Kameraschwenk braucht. Wenn Shirley Temple am Dorfbrunnen belustigt einen jodelnden Wandersmann zu imitieren versucht, entpuppt sich ihr Heidi endgültig nicht als Kind von hier, sondern eigentlich als amerikanische Touristin, die sich in ein märchenhaftes altes Europa hineinträumt.
Das alles mag man dem Film als üble Verzerrung vorwerfen, zugleich aber spiegelt sich darin bloss eine Methode, die schon dem Roman selbst eigen ist. Auch dort scheint Heidis Leben in der freien Natur mehr fantasmatische Projektion und Idealisierung einer urbanen Erzählerin als wirklich gelebte Realität. Das Prinzip wiederholt sich auch in der Erzählung selbst, wenn Heidi umso intensiver vom Leben auf der Alp träumt, je städtischer ihre Umgebung ist. Lässt sich also das in der Stadt von den Alpen träumende Heidi als selbstreflexiver Kommentar über den Roman selbst lesen, so drehen die Filme diese Schraube der Selbstreflexion weiter: Film – so wird hier offensichtlich – ist vor allem Projektion, im konkreten ebenso, wie im übertragenen Sinne. Was der Projektor an Bildern auf die Leinwand wirft, sind zugleich Projektionen eines anderen Lebens, das der Zuschauer nur aus seinen Träumen kennt.
Da ist es umso faszinierender, dass auch die erste Schweizer Verfilmung des „Heidi“ durch Luigi Comencini die Geschichte einer Projektion ist – hier nun aber in umgekehrter Richtung. Nicht der Alpenraum, sondern die deutsche Grossstadt ist hier Gegenstand des Traums. Der Film, so betont es explizit der Vorspann, wurde am Ort im Kanton Graubünden gedreht. Die Szenen sollten „bestimmt nicht meilenweit nach Atelierluft riechen“ wie es in der zeitgenössischen Presse hiess. Doch während bei Comencini die Alpenszenerie realistisch wirken mag, entpuppt sich dafür der Gegenort Frankfurt als umso fantasmatischer. Tatsächlich wurden die entsprechenden Szenen denn auch nicht in Frankfurt, sondern in Basel gedreht. Wenn es Heidi in einer der Szenen nicht mehr aushält und auf den Frankfurter Dom steigt, ist nicht nur der von Armin Schweizer mit unüberhörbarem Akzent gespielte Turmwärter offensichtlich kein Deutscher, auch die Aussicht, welche Heidi vom Turm aus auf Deutschland hat, ist eine fadenscheinige Fälschung. Das Panorama von Frankfurt, so entdeckt sogar das ungeübte Auge, ist nur eine Fototapete. Diese kam deswegen zum Einsatz, weil die Stadt zu Heidis Füssen zum Zeitpunkt der Dreharbeiten noch teilweise in Trümmern lag. Im deutsch-österreichischen Remake des Films von 1965 ist das bereits bereits wieder anders und besagte Szene wird dort zur Zelebrierung eines brummenden Wirtschaftswunderdeutschlands mit Strassen voller Autos und eiligen Menschen in eleganten Kleider genutzt. Im Schweizer Original von 1952 hingegen ist von solchem Erfolg noch nichts zu spüren und sehen. Deutschland bleibt ein Phantom. So entpuppt sich Comencini nostalgischer Film über eine Idylle des 19. Jahrhunderts unversehens als Deckerinnerung, hinter deren gefälschten Panorama-Bildern auch das ganz aktuelle Trauma des Weltkriegs lauert. Tatsächlich hatte – so kann man bei Ingrid Tomkowiaks Ausführungen zu den Schweizer „Heidi“-Filmen nachlesen – ein voreiliger Journalist in der „Westdeutschen Allgemeinen“ behauptet, der Heidi-Stoff sei für diesen Film aktualisiert und so aus dem Heimatfilm ein Trümmerfilm gemacht worden. Ganz so radikal war der fertige Film dann zwar nicht. Unbeabsichtigt aber und hinter seinen offensichtlich unwirklichen Nostalgie-Bildern von Frankfurt ist die schaurigen Realität der jüngsten Geschichte vielleicht noch irritierender spürbar, als wenn man sie direkt gezeigt hätte.
Und ganz ähnlich ist auch die wohl am stärksten belächelte aller Filmadaptionen der „Heidi“-Romane, die berühmte japanische Animationsfilm-Serie von 1974 unter dem Deckmantel der rückwärtsgewandten Kindheitsverklärung auch ein subtiler Kommentar über die aktuelle Gegenwart. Isao Takahata, der Regisseur der Serie betont denn auch, dass ihm die Konzeption ausgerechnet dieser Serie umso wichtiger erschien, in einer Zeit, da die Umweltverschmutzung, wie auch die sozialen Verschiebungen im Zuge des ökonomischen Wachstums in Japan immer stärker spürbar geworden seien. Er habe gefühlt, dass die japanische Gesellschaft Spyris Geschichte jetzt besonders nötig habe. Das Interesse an der ländlichen Idylle ist durch das Gefühl ihres Verlusts begründet. In der Tat nimmt Takahata damit einen Faden auf, der ihn später zu seinem erschütternden Weltkriegsfilm „Die letzten Glühwürmchen“, wie auch unlängst Oswald Iten im Filmbulletin hingewiesen hat. Takahatas „Die letzten Glühwürmchen“ über zwei Kinder in den Trümmern des zweiten Weltkriegs, der zugleich auch prophetische Imagination der verheerenden Atomkriege der Zukunft ist, hat in „Heidi“ seine heimlich-unheimliche Vorläuferin. So erweist sich denn auch die in der Erinnerung als durchwegs heiter scheinenden Bilderwelt der japanischen Heidi-Serie bei erneuter Betrachtung als grundiert von der Erfahrung des Verlusts und der Zerstörung. Auch darin ist Takahata erstaunlich nah an Spyris Romanen, durch die sich ebenfalls eine obsessive Beschäftigung mit dem Tod und dem Verlust geliebter Personen zieht. Takahata nimmt diese Obsession auf und verleiht ihr gleichsam ein kosmische Dimension: Nicht nur der Einzelne, eine ganze Welt ist vom Untergang bedroht – ein Thema, die sich nicht nur in Takahatas Oeuvre, sondern insbesondere in den späteren Meisterwerken seines „Heidi“-Mitarbeiters Hayao Miyazaki, in Filmen wie etwa dem apokalyptischen „Nausicaä aus dem Tal der Winde“ explizit zeigen wird. Das japanische „Heidi“ erweist sich so geradezu als verkappter Schlüsselfilm für diese späteren, ungleich düstereren Werke. Und doch ist dieser Zug ins Abgründige durchaus bereits in den Romanen Spyris vorhanden – es galt nur, diesen Aspekt schärfer spürbar zu machen. Zugleich machen Takahata und Miyazaki mit dem „Heidi“-Stoff indes auch etwas ganz eigenes, etwa wenn er die Frömmigkeit von Klaras Grossmutter sanft zurücknehmen und stattdessen zu einer überaus eigenwilligen Figur der weiblichen Emanzipation machen (eine Nachwirkung möglicherweise jenes kurz zuvor gescheiterten Projekts Takahatas, nämlich eine Fernseh-Adaption von Astrid Lindgrens “Pippi Langstrumpf“ zu machen). Wenn Klaras Grossmutter das heimwehkranke Heidi in der 28. Episode der Serie in ein hinter der Bücherwand verborgenes Zimmer im Frankfurter Anwesen mitnimmt, ist dieser geheime Raum auch als ein „Room of One’s Own“ zu verstehen, wie ihn Virginia Woolf in ihrem gleichnamigen Essay als Voraussetzung weiblicher Selbstentfaltung beschreibt. So ist Takahatas „Heidi“ nicht zuletzt auch ein Gegenentwurf zur damals das japanischen Kinderfernsehen dominierenden männlichen Identifikationsfiguren.
Damit machen denn der Schweizer „Heidi“-Film von 1952, wie auch die japanische „Heidi“-Serie von 1974 zumindest implizit bereits das, was Markus Imboden mit seinem „Heidi“-Film von 2001 versuchen wird: den alten Stoff nicht als Nostalgie-Stück, sondern als Auseinandersetzung mit der Gegenwart zu nehmen. Tatsächlich liesse sich wohl auch für die unzähligen anderen „Heidi“-Filme zeigen, das sie alle, ob gewollt oder ungewollt, immer auch ihre eigene Entstehungszeit thematisieren. Imbodens explizite Transponierung der Vorlage in die Jetztzeit mit einem sich in Berlin die Haare blau färbenden Heidi, welches im Internetcafé mit ihrem Freund Peter Kontakt aufnimmt, ging dem Publikum leider zu weit. Was Imbodens von Spyris Roman als Echo zurückbehalten hat, erschien einer Mehrheit der Zuschauer wohl als allzu eigenwillig. Die jüngste „Heidi“-Adaption von Alain Gsponer aus dem Jahr 2015 ist demgegenüber vorsichtiger und offenbar besser auf den Massengeschmack eingestellt. Einen bemerkenswerten Eigenklang hat indes auch dieses filmische Echo: während bei Johanna Spyri Heidi bekanntlich Lesen und Beten lernt, lernt sie bei Alain Gsponer und seiner Drehbuchautorin Petra Volpe anstelle der Gottesfurcht das Schreiben – damit sie später einmal selber Geschichten schreiben könne, wie Heidi erklärt. Dass in diesem Einfall eine selbstreflexive Anspielung auf die Autorin Johanna Spyri stecke, das haben alle Kommentatoren sogleich bemerkt. Weniger offensichtlich ist indes, dass sich dies auch als Anspielung auf das filmische Nachleben des Stoffes verstehen lässt. Denn so wie das Heidi bei Gsponer, so haben auch die früheren „Heidi“-Filme nie einfach nur gelesen, sondern haben ihren eigenen Roman immerzu um- und weitergeschrieben. Das Kino schreibt weiter. Das Echo ist noch nicht verklungen.
Sekundärliteratur:
Hervé Dumont: Geschichte des Schweizer Films, Lausanne: Cinémathèque suisse 1987.
Oswald Iten: „Die Schweizer Berge zwischen Sehnsucht und Idylle“ in: Filmbulletin 6 (2015), S. 56-57.
Isco Takahata: „Making of the TV Series „Heidi, Girl of the Alps“ in: Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien (Hg.): Johanna Spyri und ihr Werk – Lesarten, Zürich: Chronos 2004, S. 189-204.
Ingrid Tomkowiak: „Die Schweizer „Heidi“-Filme der 50er Jahre“ in: Johanna Spyri und ihr Werk – Lesarten, a.a.O., S. 205-222.
Jean-Michel Wissmer: Heidi. Ein Schweizer Mythos erobert die Welt, Basel: Schwabe 2014.