in: filmbulletin 5 (2015), S. 50-51 ///
Die Sequenz, unmittelbar nach dem Vorspann einsetzend, dauert nicht einmal eine volle Minute und könnte banaler nicht sein: Vier Menschen sitzen an einem Tisch, redend. Miteinander. Über einander. Mit dieser simplen Standardsituation beginnt Paul Schrader seinen von der gesamten Kritik verlachten und vom Publikum verachteten Film „The Canyons“ von 2013 und bringt ihn damit von allem Anfang aus dem Lot. „Christian just got back from Vegas“ hört man eine Frauenstimme sagen, während das aufblendende Bild uns einen jungen Mann zeigt, freundlich lächelnd, direkt in die Kamera blickend. Und während man sich noch fragt, ob er dieser Christian sei, von dem die Rede ist, antwortet stattdessen eine männliche Stimme im Off: „Yeah, just for the weekend. Private thing.“ Dann Umschnitt auf eine Frau, die erst den Blick gesenkt hat, dann aufsieht und nun ebenfalls direkt in die Kamera schaut. Doch auch sie ist nicht die Richtige, jedenfalls nicht die, deren Stimme wir bereits kennen. Denn während diese Frau im Bild schweigt, fährt die bereits bekannt Frauenstimme im Off fort: „He knows everyone“. Erst ein weiterer Schnitt enthüllt uns die Sprecherin, die nun aber, da wir sie endlich sehen, ebenfalls schweigt, wiederum stumm lächelt, mitten hinein in die Kamera auch sie. Erst das vierte Bild zeigt uns jemanden, der auch tatsächlich spricht, während man ihn sieht. Das muss Christian sein, der jeden kennt, der nur hier ist, fürs Wochende, wegen einer privaten Sache. Christian erzählt, wo er in Las Vegas abgestiegen sei. Weitere Banalitäten Sein Blick derweil bleibt, als einziger in dieser Runde, konsequent woanders hin gerichtet. Nicht in die Kamera, sondern schräg nach unten. Abgelenkt.
Schuss und Gegenschuss – so benennt man die gebräuchliche Schnitttechnik für Dialogszenen. Eine erste Einstellung, der sogenannte Schuss, zeigt den Sprecher, die andere Einstellung, der Gegenschuss, den Antwortenden. Aktion und Reaktion wird so zur Bilderfolge. So schafft man im Kino Kohärenz und verhindert Irritationen. Denn während der Kinozuschauer sich in der ersten Einstellung fragen mag, wer hier angesprochen wird, gibt ihm die zweite, komplementäre Einstellung eine Antwort darauf. So näht der Film seine separaten Einstellungen zu einer logischen Erzählkette zusammen und versteckt dabei zugleich seine eigene Apparatur. Denn stand der Sprecher nicht in Wahrheit vor einer Kamera, als er seinen Text sprach? Und spricht nicht auch der Antwortende in eben diesen Apparat? Die Kamera aber, dieser Apparat, der überhaupt erst ermöglicht, dass wir im Kino etwas zu sehen kriegen, mag sich selber dabei nie zeigen, sondern verbirgt sich unentwegt hinter der Naht zwischen den Bildern. Die Abfolge von Schuss und Gegenschuss gaukelt vor, die Figuren würden tatsächlich miteinander sprechen, die sauber vernähten Einstellungen lassen uns den Apparat vergessen.
Im Beginn von Schraders „The Canyons“ hingegen sind die Einstellungen nicht sauber, sondern allesamt falsch vernäht. Statt dass auf den Schuss der passende Gegenschuss folgen würde, zeigt uns der Film unentwegt das, was nicht passt. Der Mann in der ersten Einstellung ist nicht der, von dem die Rede ist, die Frau in der zweiten nicht die, welche spricht. Und statt einem richtigen Anschluss, zeigt uns die Folge der Bilder zu viele. Die Schnittfolge tut, als würden am Tisch des Restaurants die Männer direkt den Frauen gegenübersitzen, die sie anlächeln. Wenn man am Ende der Sequenz endlich die ganze Tischordnung sieht, bemerkt man, das auch das nicht stimmt. Die Verunsicherung ist freilich zu subtil, zu kurz, als dass der ungeübte Betrachter sie sofort analytisch erfassen könnte, aber vielleicht doch stark genug, um eine vage Desorientierung in ihm auszulösen. Auch wer es nicht sogleich benennen kann, spürt es doch: Die Naht zwischen den Bildern ist ausgefranst. Die Erzählung fällt auseinander. Statt einander sehen die Figuren auch im restlichen Film, immer etwas anderes. Die Blicke in diesen ersten Sekunden des Films scheinen sich zwar gegenseitig anzustossen, wie einem Billardspiel, das von einer Bande des Tisches zur anderen läuft, doch die letzte Kugel fällt nicht ins Loch, sondern rollt davon, ins Leere.
Bedeutsam darum auch, wohin Christian, der Vierte am Tisch und offensichtlicher Protagonist des Abends schaut, wenn die Kamera in endlich zeigt: nichts in die Linse, sondern aus dem Bild hinaus, auf sein Mobiltelefon, wie wir später sehen. Dessen Screen aber zeigt selber wieder eine neue Einstellung: ein Internet-Profilbild eben jenes lächelnden jungen Mannes, der ihm am Tisch gegenübersitzt und mit dem der Film begonnen hatte. So kommt am Ende der Sequenz dieser Parcours der Blicke doch wieder bei seinem Ausgangspunkt an und verpasst diesen zugleich gerade. Denn statt im Sinne der Schuss-Gegenschuss-Logik mit jenem Bild zu schliessen, mit dem man anfing, ist das Bild vom Anfang nun durch eine jener Mobiltelefonbilder ersetzt worden, die man so bedeutsam „Selfie“ nennt. So strandet die Sequenz bei einem Bild, das immer schon beides war, Schuss und Gegenschuss zugleich, dem Kurzschluss-Bild des Selfies, das nie einen anderen Adressaten hatte, als nur wieder den selbst, der das Bild macht. Die Sequenz wird zur Vorführung einer optischen Blockade. Der Fluss der Bilder kennt kein Ziel und führt doch nirgends hin. Klaustrophobisch drehen die Bilder in sich selber, wie es typisch ist fürs Digitale. „Die elektronischen Bilder“ so heisst es bei Gilles Deleuze „haben kein Äusseres mehr und gehen in kein Ganzes mehr ein […] sie verfügen über die Fähigkeit, sich um sich selbst zu drehen.“
Doch nicht nur das Bild auf Christians Telefon ist als digitales Selfie eines, das in sich selber dreht. Auch alle Bilder von Schraders eigenem Film sind digital verfasst, rasen in sich kreisend, ohne Ziel. So entstellt die Eröffnung von „The Canyons“ das eigene Mediums zur Kenntlichkeit. Die sich ändernden technischen Bedingungen im Übergang vom analogen zum digitalen Film zeigt sich auch in einer Auflösung seiner einst gültigen Erzählregeln. Die ehemals soliden Nähte zwischen Schuss und Gegenschuss sind aufgetrennt. Die Kohärenz zielgerichteter Erzählung weicht einem zirkulären Wiederholungszwang. Und damit nehmen die ersten Sekunden von „The Canyons“ eigentlich die ganze Handlung vorweg. Was nicht stimmt in diesem Anfang, wird sich auch später nie zusammenfügen. Alle Beteiligten sind aneinander angeschlossen, aber immer falsch. Der Kontakt findet statt, nonstop, doch nur als ab- und umgelenkter. Gespräche können nur geführt werden über falsche Verbindungen. Sex kann man nur haben, wenn von anderen beobachtet, von Kameras gefilmt und von Pixeln verrauscht. Gewalt kann nur geschehen als Imitation, Klischee und Parodie, ausgeführt von drittklassigen Schauspielern. Dieses Versagen aber ist ein Triumph. Die verfehlten Bildern von nur ein paar Sekunden Dauer treffen. Besser als anderswo ganze Filme. Wer es nicht sieht, hat nicht genau geschaut.
Ein Gedanke zu “Kontakt, gestört: Paul Schraders „The Canyons“”