Kuckuck spielen: Otto Premingers „Bonjour Tristesse“

in: Filmbulletin 6 (2015), S. 50-51 ///

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Die Szene ist eine Falle, für die Figuren ebenso wie für unseren Blick. Man verheddert sich darin. Es ist die Falle, welche das eifersüchtige Mädchen Cecile der prüden Anne, ihrer Stiefmutter in spe gestellt hat, um sie ein für allemal loszuwerden und endlich zu jener Sorglosigkeit zurückzukehren, die sie und ihr Schwerenöter-Vater bislang genossen haben. Cecile hat darum ein Schäferstündchen arrangiert, zwischen ihrem Vater und einer seiner früheren Gespielinnen und Anne soll die beiden in flagranti ertappen, um dann schockiert und endgültig abzureisen. Der Plan gelingt. Allzu perfekt.
Alles ist auf Inszenierung, auf Täuschung angelegt in Otto Premingers Film, in dieser Szene am offensichtlichsten. So wie Cecile ihre Rivalin, welche ihr innig-inzestuöses Verhältnis mit dem Vater zu zerstören droht, wie eine Spielfigur herum bugsiert, damit diese sich selbst Schachmatt setzt, so arrangiert auch der Regisseur seine Figuren wie Marionetten auf einer Kasperlebühne. Mise-en-scène nennt sich das: filmisches Erzählen, nicht durch Montage sondern mittels Arrangement im Raum. Nicht mehr der Schnitt wählt aus, was wir sehen sollen, stattdessen ist der Raum des Filmbildes offen für unseren eigenen schweifenden Blick, in den der Zuschauer wie in ein Prisma hineinschauen und das Drama selbst erkennen muss, wie es bei André Bazin heisst.
Doch was wir in Premingers Prisma erkennen, ist nur wieder dessen eigene Struktur als Spiegelung. Wenn sich Cecile an das offene Fenster anschleicht, hinter welchem Anne nichtsahnend über ihren Modezeichnungen sitzt, erscheint das Filmbild verdoppelt: das offene Fenster ist nichts anderes als ein weiterer Bildschirm, mit Anne als dessen Hauptdarstellerin und Cecile als heimlicher Regisseurin. Derweil hängen hinten an der Wand von Annes Zimmer zwei Zeichnung und dazwischen ein Gemälde mit abstrakten Formen, in Gelb Rot und Weiss vor dunklem Hintergrund – ein Gemälde von genau der Art, wie die Grafiken des Designers Saul Bass, die wir bereits im Vorspann von „Bonjour Tristesse“ gesehen haben. Der Film zitiert sich selbst. Wir sehen ein Bild im Bild im Bild – die mise-en-scène wird zur mise-en-abyme.
Und zugleich ist diese Staffelung verschiedener Bildräume nur wieder eine weitere Täuschung. Denn die Bildräume sind eigentlich gar nicht getrennt, auch wenn alle so tun. Wenn Anne durch den Garten spaziert und Cecile hinter ihr her schleicht, darauf lauernd, wann die Nichtsahnende endlich auf das Liebespaar in den Büschen stossen wird, sind wir Zuschauer irritiert ob der schreienden Künstlichkeit der ganzen Inszenierung. Wie kann es sein, dass Anne ihre Verfolgerin nicht sieht, wo diese doch nur wenige Schritte hinter ihr geht? Wie sie nicht bemerken, wenn sie hinter dem Baum steht, direkt am Weg und dabei nur halb verdeckt? So wie Eltern beim Verstecken-spielen den Kleinen zuliebe manchmal so tun, als seien sie ganz ahnungslos, während sie die Kinder im Gebüsch eigentlich schon längst erspäht haben, so scheint auch Anne willentlich das Versteckspiel mitzumachen, welches ihre Stieftochter für sie im Garten ausgelegt hat. Du siehst mich, du siehst mich nicht: man spielt Kuckuck.
Vom Kuckuck kommt auch der Cuckold – pornographischer Jargonbegriff für jenes erniedrigende Sexspiel, wo der Ehemann zusehen muss, wie die Frau mit einem anderen schläft. Aus „Du siehst mich, Du siehst mich nicht wird das Blümchenspiel „Sie liebt mich, sie liebt mich nicht.“ Anne ist der Cuckold, wenn sie am Ende ihres Spazierganges Ceciles Vater entdeckt, wie dieser mit einer anderen Frau rummacht. Diesen obszönen Akt selbst indes, zeigt uns der Film nicht. Wir hören nur die Stimme des Fremdgehers, wie er seiner Gespielin zuflüstert und sich über seine nichtsahnende Verlobte lustig macht und sehen dazu in Grossaufnahme Annes zunächst erschrockenes, dann verzweifeltes Gesicht, die das alles mitansehen, mit anhören muss. Als Leerstelle, aus dem Bild verbannt, wird der sexuelle Akt, auf den in diesem Film immer angespielt, der aber nie vollzogen wird, zum blossen Fantasma. So fragt man sich unweigerlich, ob Anne tatsächlich ihren Verlobten mit einer anderen sieht oder sie sich das Ganze nur vorstellt? Ist ihre Angst davor, betrogen zu werden, vielleicht ihr heimlicher, masochistischer Wunsch? Eben dieser Schwebezustand zwischen Angst und Lust ist denn auch, worauf es der Masochismus eigentlich abgesehen hat. Wenn in den Erzählungen von Sacher-Masoch die konkreten obszönen Beschreibungen allesamt fehlen, so nur, weil sich im Aufschub, in der Suspension selbst die eigentliche Erregung des Masochismus kristallisiert. Daher kommt, Gilles Deleuze zufolge, denn auch die Affinität des Masochismus für Posen und Larven: „Die masochistischen Szenen müssen wie Plastiken oder Gemälde erstarrt sein, Plastiken oder Gemälde kopieren, sich in Spiegeln und Reflexen wiederholen“. Die Verdoppelungen in der mise-en-scène von „Bonjour Tristesse“, die Staffelungen von Bild in Bild in Bild – sie passen nur allzu gut masochistischen Atmosphäre des ganzen Films.
Doch so, wie sich die Bildräume staffeln und doch eigentlich immer nur ein dasselbe Prisma bilden, so staffeln sich auch die Betrachter und sind doch eigentlich alle miteinander identifiziert. Nicht nur Anne ist die Erniedrigte, Celine selbst, die Regisseurin dieser ganzen Scharade, ekelt sich im Lauf dieser Szene ob jenem Anblick, den sie doch selbst so hinterlistig herbeigeführt hat. Celine wird damit zum Opfer ihrer eigenen Intrige: zum Cuckold des Cuckolds.
Wenn Anne schliesslich davonstürzt zu ihrem Wagen und Celine ihr hinterher, kommt es zu einer letzten Konfrontation zweier Sphären des Bildes. Zwischen dem Innenraum des Wagens, in dem die verzweifelte Anne sitzt und dem Aussenraum, aus dem Celine zu ihr hineinblickt, ist das Fenster des Wagens als Bildschirm. Auf der Kante des Fensters aber, auf der Schwelle zwischen Innen- und Aussenraum sind die Hände von Anne und Celine verschlungen. „We need you“ sagt die Tochter. „You don’t need anybody“ sagt die Stiefmutter. Beide haben sie recht. Das masochistische Kuckucksspiel braucht den anderen, vor dem man sich angeblich verstecken und dabei umso mehr entblössen kann. In Wahrheit aber dreht sich dabei alles nur um einen selber. Der Voyeur schaut eigentlich nur immer sich selber zu. Die Bildschirme, die er um sich herum aufstellt, sind nur Spiegel.
Vielleicht erkennen wir in diesem Moment auch unseren eigene Rolle in dem ganzen Spiel. Wir, die Zuschauer sind es doch eigentlich, für die Celine und Anne ihr fadenscheiniges Versteckspiel getrieben haben. Der Cuckold, der genarrt werden will und sich dabei aufstachelt, das sind wir selbst. Vielleicht erinnern wir uns dann auch an Celines hartnäckigen Blick in die Kamera, zu Beginn von „Bonjour Tristesse“. Nachträglich lesen wir darin die Frage der Gespielin an ihren Partner: „Na, ist es das, was Du sehen wolltest?“