Stimmen hören: Suddenly Last Summer

Filmbulletin 2.16 (2016), S. 42-43 ///

SLSWas gemeinhin als Hinweis auf eine psychische Störung gilt, ist im Kino nichts weniger als der normale Fall: Stimmen hören, mit ungewissem Ursprung; Stimmen hören, die sich verselbstständigt und von jenen Körpern losgelöst haben, die sie ursprünglich hervorgebracht hatten – solche frei flottierenden Stimmen hört nicht nur der Schizophrene in seinen akustischen Halluzinationen, sondern jeder Kinobesucher. Denn auch im Kino kommen die Worte niemals aus den Mündern der Personen, die wir als Schemen auf der Leinwand sehen, sondern eigentlich von woanders her: aus den Lautsprechern vor, neben und um uns herum. So bleibt im Kino die Audio-Vision immer durch einen Riss gespalten. Bild und Ton sind unterschiedliche Apparate und damit auch verschiedene Schicksale vorbehalten. So bilden Stimmen und Körper im Kino immer nur scheinbar eine natürliche Einheit, tatsächlich müssen sie durch beträchtlichen technischen Aufwand gekoppelt werden, mit mehr oder weniger überzeugendem Resultat, wie man in sich Filmen von Stanley Donens „Singin’ in the Rain“ bis Francis Ford Coppolas „The Conversation“ überzeugen kann.

Spätestens dort aber, wo das Bild gar nicht mehr so tut, als halte es die Quelle der Stimme bereit, nähern sich Filmbetrachtung und Psychose irritierend an. „Acousmêtre“ hat der Theoretiker des Filmtons Michel Chion diese Stimmen ohne sichtbaren Urheber genannt, die gerade aufgrund ihrer Autonomie so mächtig wirken. Stimmen wie jene des Dr. Mabuse, von Norman Bates’ toter Mutter oder dem Computer HAL aus Kubricks „2001“ – sie nehmen uns gefangen, weil sie zu hören bedeutet, selber mit den Ohren in jenem Wahnsinn zu stecken, von dem sie künden.

Indes sind nicht nur diese aussergewöhnlichen, sondern schlechthin alle Off-Stimmen, die das Bild kommentieren, ihren eigenen Ursprung aber nicht im Bild sehen lassen, solche „acousmêtres“. Voice-over – der Fachausdruck für solche Kommentare aus dem Off sagt schon alles: Die Stimme ist nicht verankert. Sie flottiert frei über dem Geschehen. Der Irrsinn nimmt so seinen hörbaren Lauf.

In „Suddenly Last Summer“ kulminiert das Drama um eine Psychiatrie-Patientin, der ihre angeblich wahnhaften Erinnerungen an den Tod ihre Cousins mittels Lobotomie buchstäblich aus dem Hirn geschnitten werden sollen, in einer langen Voice-over-Sequenz. In Anwesenheit ihres Nervenarztes, sowie der Mutter des verstorbenen Cousins wird aufgedeckt, wie dieser zu Tode kam; wie der junge Mann in den Ferien mithilfe seiner Cousine junge Männer angelockt und zu homosexuellen Liebesspielen verführt hat, um schliesslich in einem Akt kannibalistischer Lust, von seinen Liebhabern auf einem Hügel, ermordet, zerfleischt und verschlungen zu werden. „They had devoured parts of him. Torn or cut parts of him away with their hands or knives or maybe those jagged tin cans they made music with, they had torn bits of him away and stuffed them into those gobbling fierce little empty black mouths of theirs. There wasn’t any sound any more…“ so liest sich das in dem Einakter von Tennessee Williams, welcher dem Film als Vorlage diente. Der Film indes zeigt diesen grausigen Akt des Menschenopfers nicht im Bild. Der Film verlagert die Gewalt woanders hin: auf die Tonspur. Was sie getan habe, hören wir die Stimme des Psychiaters seine Patientin fragen. Sie stammelt: „Then I… I… then I…“  und dann zerreisst ein markerschütternder Hilfeschrei den ganzen Film. Vielleicht der schrecklichste Schrei der Filmgeschichte. Unmenschlich verzerrt, klirrend und hallend scheint der Schrei von überall zu kommen und nirgends. Er ist sowohl Klang aus der Vergangenheit, akustischer Überrest des traumatischen Erlebnisses von einst, und Schrei in der Gegenwart der Nacherzählung, markerschütternder Ausdruck einer Re-Traumatisierung. Die Trennungen kollabieren. Vergangenheit und Gegenwart, Voice-over und Direct Sound, innerer und äusserer Ruf, menschlicher und maschineller Klang – es ist, als würden alle diese sonst so säuberlich getrennten Ebenen sich in diesem Schrei wie in einem geometrischen Punkt schneiden. An dieser Stelle zerbricht der Film, löst sich auf, wird zerrissen, genauso wie der Körper des jungen Homosexuellen von den Händen seiner Liebhaber.

Im reinen Schrei, der nichts mehr sagt, sondern alles niederreisst indes, zeigt sich nichts anderes als das, was die Stimme an sich ist. Denn will man die Stimme für sich betrachten, so schreibt der Philosoph Mladen Dolar in seiner grandiosen „Theorie der Stimme“, dann ist sie das, was übrig bleibt, wenn man die Worte, die Inhalte, also all das, was man auch mit anderen Mitteln ausdrücken könnte, eliminiert, bis nur noch der schiere materielle Träger übrig bleibt. „Die Stimme ist das, was nichts zur Sinngebung beiträgt. Sie ist das materielle, bedeutungsresistente Element, und sofern wir sprechen, um etwas zu sagen, ist die Stimme genau das, was nicht gesagt werden kann.“

Stimmen zu hören hat also tatsächlich mit der Psychose eng zu tun, als die Stimme in ihrer reinen nackten Form zu hören jenen Moment bezeichnet, wo alle Sinngebäude einstürzen, wo alles Sagen und Bedeuten seinen Geist aufgibt. Der reine, und dadurch auch zwangsläufig unmenschliche Schrei am Höhepunkt von „Suddenly Last Summer“ markiert diesen Punkt des psychotischen Zusammenbruchs: den Einbruch der Stimme.

Aushalten kann der Film das nur fünf Sekunden lang, dann greift bereits der Psychiater wieder ein, will weitergehen: „And then…? And then…?“ Nur schnell weg von hier. „Ein cri pur, ein reiner Schrei“ so heisst es bei Mladen Dolar „verwandelt sich in einen cri pour, einen Schrei nach jemandem. […] In dem Moment, da der Andere sich durch den Schrei gefordert und gemeint fühlt, in dem Moment, da er auf ihn antwortet, verwandelt sich der Schrei rückwirkend in einen Appell, der interpretiert wird, der bedeutungshaltig ist, verwandelt sich in eine Rede, die sich an den Anderen wendet.“ So wird auch der tatsächlich markerschütternde Schrei von „Suddenly Last Summer“ sogleich wieder zugedeckt unter Worten. Der psychotische Riss, den er verursacht hat, muss sogleich wieder gekittet und hinter sich gelassen werden. „And then…?“

Dieser Psychiater aber, der sich hier gemeint fühlt, wird von keinem anderen als Montgomery Clift gespielt, jenem Schauspieler, der selber so gerungen hat, mit seiner Tablettensucht seiner Homosexualität, die ja erst 1973 von der American Psychiatric Association aus ihrem Krankheitenkatalog, dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders gestrichen wurde. In der Filmhandlung, in deren Zentrum die Geschichte eines sich selbst zerstörenden, ob seiner Homosexualität verfolgten und gequälten Mannes steht, spiegelt sich unversehens auch die ausserfilmische Realität jenes Schauspielers, der zum Zeitpunkt der Dreharbeiten schon gar nicht mehr recht spielen konnte und den der Regisseur des Films mehrmals ersetzen wollte. Auch so gesehen markiert der Schrei in „Suddenly Last Summer“ den heiklen Schnittpunkt von vormals getrennten Ebenen: Filmhandlung und Drehbedingung, Rolle und Akteur – in der entfesselten Stimme prallen und brechen sie zusammen.

Suddenly Last Summer (USA 1959) 01:43:41–01:44:14
Regie: Joseph L. Mankiewicz
Drehbuch: Gore Vidal, nach dem Theaterstück von Tennessee Williams
Kamera: Jack Hildyard
Schnitt: William Hornbeck, Thomas Stanford
Musik: Buxton Orr
Darsteller: Elizabeth Taylor, Katharine Hepburn, Montgomery Clift