Wahrnehmung auf Abwegen. Wie der Film bildet.


Filmbulletin 6.17 (September 2017) S. 6-17 ///

Film ist kein Wissensstoff unter anderen, sondern eine Erfahrung. Die Zukunft der Filmbildung wird darin bestehen, den Film als das Wahrnehmungsexperiment erfahrbar zu machen, das er seit seiner Erfindung ist. Film ist ein Labor der Innovation, in dem man lernt, anders und Anderes wahrzunehmen. 

Statt in die Schule geht Antoine Doinel ins Kino. Während sein Klassenzimmer mit seinen Techniken des Überwachens und Strafens eher einem Kerker gleicht, verschafft ihm die Leinwand einen freieren Blick. Der Lehrer mit seinem Rohrstock möchte das noch junge Subjekt klein und gefügig machen. Das aber bildet sich woanders: im Kinosaal. So ist es zu sehen in François Truffauts Les 400 coups. Natürlich spiegelt sich in dieser Überwindung eines grausamen Schulsystems durch die Möglichkeiten des Films auch der Glaube des Regisseurs selbst ans Kino als Ort einer anderen Bildung. Kino entpuppt sich als besserer Unterricht. Treffend darum auch, dass jenes lange Fernsehgespräch von 1981, in dem der Filmemacher anhand von zahlreichen Ausschnitten sein Œuvre Revue passieren liess, mit «La leçon de cinéma de François Truffaut» überschrieben war. Dort erklärt Truffaut denn auch, er sei ein Autodidakt wider Willen, der gerne eine fundiertere Schulbildung genossen hätte. Seine Filme indes beweisen, wie weit jene andere Bildung führen kann, die einem im Kinosaal widerfährt.

Der Film bildet. Und zwar bereits im engeren Wortsinn: Der Film macht Bilder vor und entsteht damit erst im Fortgang der Vorführung. Während eine Skulptur im Raum, ein Gemälde an der Wand oder eine Fotografie in der Hand mehr oder weniger stabile Gegenstände der Betrachtung sind, ist die Flüchtigkeit dieser Kunst für alle Zuschauer offensichtlich. Wenn der Film zu Ende ist, bleibt auf der Leinwand bekanntlich nichts zurück. In derselben Bewegung, in der der Film sich zu sehen gibt, entzieht er sich zugleich auch – darauf beruht seine Technik.

Freilich gibt es auch beim Film Träger, von mehr oder weniger grosser Stabilität: Filmrollen, Video­bänder, Silberscheiben, Festplatten. Aber eine Festplatte auszustellen, so wie man eine Skulptur ausstellt, würde gewiss nicht als Filmvorführung durchgehen, und genauso wenig wäre das Kinopublikum zufrieden, würde der Operateur, statt den Film auf Leinwand zu projizieren, bloss die Filmrollen durch die Sitzreihen reichen. Was wir meinen, wenn wir davon sprechen, einen Film zu sehen, ist nicht ein solider Gegenstand, sondern eine Performance. Oder anders gesagt: Film ist nicht. Film wird. Er bildet sich.

Abweichende Bewegungen

So zwingt uns der Film stärker als vielleicht jede andere visuelle Kunst, Bildung als Prozess zu verstehen. Denn auch jene Bildung, von der die Pädagoginnen und Pädagogen sprechen, ist nie einfach vorhanden, sondern muss andauernd entstehen. Während man zwar im Alltag durchaus davon spricht, dass jemand über Bildung verfüge, ist diese Ausdrucksweise eigentlich irreführend, weil sie so tut, als wäre Bildung eine Sache, die man ein für alle Mal besitzen könne. Genauso wenig aber wie Bildung sich in einem Arsenal an auswendig gelerntem Wissen erschöpfen darf, kann sie ein fixer Gegenstand sein, dessen man sich ein für allemal bemächtigt. Bildung hat man nicht. Man erfährt sie. So muss Bildung als Bewegung verstanden werden, die nicht auf einen Abschluss zielt, sondern sich immer weiter fortsetzt, potenziell unendlich. Und es sind gerade die immer neu entstehenden Bilder der motion pictures, die uns diese Bildung, die nicht aufhören mag, sondern sich immer weiter entfalten will, vorführen.

Wenn am Ende von Les 400 coups Antoine endlich die Flucht gelingt, rennt er vom Sportlehrer der Jugendanstalt, der eigentlich nur ein Gefängniswärter ist, einfach davon. Und die Kamera mit ihm. Statt sich einsperren zu lassen, folgt Antoine der Lektion des Kinos. Und wir rennen mit.

Die «mouvements aberrants», die abweichenden Bewegungen seien es, schreibt David Lapoujade in seinem gleichnamigen Buch, die den Philosophen ­Gilles Deleuze so am Kino interessiert hätten: jene Fluchtlinien, die sich nicht in das Raster der Rationalität, des Zweckmässigen und Zielgerichteten fügen, sondern die eine andere Logik etablieren, eine Logik der Überschreitung und des Abweichens. Die Flucht Antoines, wenn er plötzlich vom klar umgrenzten Fussballfeld der Anstalt abhaut, unterm Zaun hindurch, an der Brücke vorbei, dem Feld entlang, erweist sich als Beispiel für jene Fluchtlinie, die dem Medium Film insgesamt eigen ist: nicht stehen bleiben, immer weitergehen.

Wahrscheinlich sind es aber gerade die abweichenden Bewegungen des Films, die dessen Inte­gration in den schulischen Unterricht bis heute so schwierig machen. Dem Medium ist ein renitenter Bewegungsdrang eigen, der mit dem schulischen Disziplinierungssystem unweigerlich in Konflikt geraten muss. Nun gehören zwar Klassenzimmer wie jenes in Les 400 coups unterdessen glücklicherweise der Vergangenheit an. Ganz problemlos lässt sich der Film trotzdem nicht in Lehrpläne integrieren, weil er nicht auf zuvor klar definierte Lernziele hinauslaufen will. Denn anstelle eines messbaren Wissens, das sich besitzen liesse, ist die Lektion des Films vielmehr, sich auf einen Bildungsprozess der abweichenden Bewegung einzulassen, mit offenem Ergebnis.

Anders sehen lernen

Tatsächlich aber zählt gerade diese abweichende Be­wegung zu jenen Fähigkeiten, die zukünftige Genera­tionen nötig haben werden: nämlich als Vermögen, anders und Anderes wahrzunehmen. Nur wer sehen kann, wie andere noch nicht gesehen haben, ist zur Innovation fähig. Aufgabe der Bildung wird sein, sich darin einzuüben, wie sich die eigene Wahrnehmung entgrenzen lässt. Und das Kino ist ein Labor dieser Entgrenzung.

Bereits 1923 betont der russische Filmpionier Dziga Vertov, dass das Potenzial der Kamera nicht darin liege, sich möglichst geschickt der menschlichen Wahrnehmung anzupassen, sondern vielmehr darin, diese radikal zu überschreiten: «Von heute an werden wir die Kamera befreien und werden sie in entgegengesetzter Richtung, weit entfernt vom Kopieren, arbeiten lassen. […] Ich bin Kinoglaz. Ich bin ein mechanisches Auge. Ich, die Maschine, zeige euch die Welt so, wie nur ich sie sehen kann.» In Der Mann mit der Kamera wird Vertov deshalb die Kamera nicht auf Augenhöhe belassen, sondern durch die Luft werfen oder von einem Zug überrollen lassen. Wo das menschliche Auge versagt, fangen die Möglichkeiten des Kinos erst an. Die Bilder des Films, so macht schon Vertov klar, können sich nicht in blosser Reproduktion unserer Sinne erschöpfen, ebenso wenig wie es das Ziel von Bildung sein darf, bloss verfügbares Wissen wiederzugeben. Statt also Film nur in den Unterricht eingliedern zu wollen als ein Fach unter anderen, das es zu beherrschen gilt, dessen Geschichte man kennen und dessen kanonische Werke man ge­sehen haben muss, wäre vielmehr Film als jenes Wahrnehmungslabor wiederzuentdecken, das er schon seit seiner Erfindung ist; als Ort des Experiments, in dem neue Sichtweisen ausprobiert werden. Sich auf Filmbildung einzulassen, hiesse nichts Geringeres, als vom Film die eigene Wahrnehmung aus- und umbilden zu lassen und sehen zu lernen, wie man noch nie zuvor gesehen hat.

Ein Film, der dieses andere Sehen besonders eindrücklich vorführt, ist interessanterweise als Schulfilm im Rahmen des Mathematik- und Geometrie­unterrichts bekannt geworden, zumindest in den USA. Der von Charles und Ray Eames für die Firma IBM realisierte Kurzfilm Powers of Ten soll Exponentialrechnung und die Wichtigkeit von Grössenverhältnissen veranschaulichen. Der Film beginnt mit einer Aufnahme aus der Vogelperspektive, die ein Paar beim Picknick in einem Park zeigt. Dann bewegt sich die angebliche Kamera (tatsächlich arbeitet der grösste Teil des Films nicht mit fotografischen Aufnahmen, sondern mit Animationen) mit exponentiell wachsender Distanz von diesem Schauplatz in die Höhe, sodass sich alle zehn Sekunden der Abstand zum ursprünglichen Sujet um das Zehnfache vergrössert. So gelangt man in nur 24 Schritten vom Paar auf dem Rasen zu den äussersten Grenzen des Universums. Bei der umgekehrten Bewegung, bei der wir gleichsam in die Hand des schlafenden Mannes hineinzoomen, brauchen wir nur 16 Schritte, um von der Haut bis ins Innerste der atomaren Zellkerne vorzustossen. Die Faszination, die der Eames-Film auf Generationen von Schülern ausgeübt hat, dürfte indes kaum darin gründen, wie plausibel hier mathematische Funktionen bebildert werden, sondern vielmehr darin, mit welcher Virtuosität hier das Medium Film als eines vorgeführt wird, das ganz mühelos mit anthropo­morpher Wahrnehmung zu brechen vermag. Filmbildung als Horizonterweiterung im buchstäblichen Sinn. Auf der Skala, die vom ausserirdischen Makro- bis zum subatomaren Mikrokosmos reicht, ist der Mann auf seiner Picknickdecke nur ein Zwischenzustand unter anderen. Der menschliche Massstab, sowohl was Grössenverhältnisse wie was Wahrnehmungsfähigkeit angeht, ist für den Eames-Film nur noch der Ausgangspunkt, von dem man dann mit exponentieller Geschwindigkeit in alle Richtungen abweicht.

Wahrnehmungsexperimente

«Man hört in pädagogischen Kontexten oft die Maxime, die Schüler müssten da abgeholt werden, wo sie stehen. Uns scheint es vielversprechender, sie ohne Umwege dahin zu bringen, wo sie noch nicht gewesen sind», schreiben Volker Pantenburg und Stefanie Schlüter in ihren «Zehn Anmerkungen zur Filmbildung» in der Zeitschrift «Nach dem Film». Experimentalfilme wie Powers of Ten machen es vor. Im Unterricht wäre es darum gerade interessant, sich neben dem Erzählkino, mit dem die Schüler bereits vertraut sind, auch das anzuschauen, was gar nichts erzählt, dafür aber direkt unsere Sinne attackiert. Die von Hand in den Filmstreifen gekratzte optische Poesie von Norman McLarens Blinkity Blank oder der Lichtpunkt einer abgefilmten Kathodenstrahlröhre, der in Mary Ellen Butes Abstronic wundersame Tänze aufführt, oder die Bildstörungen, die sich ergeben, wenn man wie in Curdin Schneiders Camkiller das Aufnahmegerät anzündet – in solchen Experimenten präsentiert sich Film als Phänomen, das weniger verstanden als vielmehr erlebt werden will. Dass einem vom blossen Zusehen schwindlig werden kann, wie angesichts der stroboskopischen Aufnahmen in Peter Tscherkasskys Instructions for a Light and Sound Machine, dass Filme also gar nichts erzählen müssen, dafür aber umso mehr körperliche Erfahrung sein können, dürfte Schüler wie Lehrer verblüffen. Und hoffentlich inspiriert es dazu, selber gemeinsam optische Täuschungen und visuelle Tricks zu basteln, um die eigene Wahrnehmung herauszufordern.

Über die Geschichte des Films hat man damit ganz nebenbei auch noch etwas Wichtiges gelernt: Auch die ersten Filmpioniere nutzten den Film weniger als narratives Medium denn als pures Spektakel, als «Kino der Attraktionen», wie es beim Filmhistoriker Tom Gunning heisst. Auch die gefilmten Zaubertricks des Kinopioniers Georges Méliès geben als Story nichts her, sondern zielen auf die unmittelbare Verblüffung des Publikums. Dass wir noch heute unweigerlich lachen müssen, wenn Méliès in Un homme de tête seinen eigenen Kopf vervielfältigt und mit diesen Kopien zusammen ein Ständchen singt oder in Les cartes vivantes aus einer Spielkarte eine lebendige Herzdame steigen lässt, belegt eindrücklich, wie uns das Kino allein mit seinen Verfahren zu affizieren vermag. Das ist auch nach 120 Jahren Filmgeschichte nicht anders, wenn ein zeitgenössischer Vertreter des Attraktionskinos wie George Millers Mad Max: Fury Road uns allein durch den Einsatz seiner Mittel den Atem nimmt. Die Handlung ist derart rudimentär, dass sie in einen einzigen Satz passt: eine Verfolgungsjagd quer durch die Wüste, einmal hin und dann zurück. Was uns indes unwiderstehlich packt, ist der schiere Geschwindigkeitsrausch dieses Films, seine rasende Kamera und sein schreiender Sound. Zwei Stunden lang werden wir mitgerissen auf jene abweichenden Bewegungen, die das Kino auszeichnen.

Spurenlesen

Hat man sich den Blick von den Bewegungen des Films erst einmal verdrehen lassen, wird man vielleicht auch am angeblich so vertrauten Erzählkino noch besser entdecken, was dieses so besonders macht. Filmbildung müsste betonen, nicht wie ähnlich, sondern wie eigenartig Kino im Vergleich mit anderen Medien erzählt. Statt beispielsweise Literaturadaptionen danach zu beurteilen, wie treu der Film der Vorlage folgt, müsste gerade die Abweichung als eigentliche Qualität in den Fokus gerückt werden. Ein Deutschunterricht hingegen, in dem Filme höchstens am Schluss des Semesters und als blosse Illustration jenes Klassikers vorkommen, den man gerade durchgenommen hat, wird einem kaum etwas anderes beibringen als nur wieder jenen alten Dünkel, der sich im stereotypen Vorwurf äussert: «Der Roman ist halt schon viel komplexer als der Film.» Wer von Filmen erwartet, dass sie wie Bücher funktionieren, hat von beiden Medien nichts verstanden. Filme wirklich lesen zu lernen, bedeutet hingegen, sich auf deren eigenwillige und einzigartige Schreibverfahren einzulassen und diese nicht immer schon auf das zurückführen zu wollen, was man schon von woanders her kennt.

Lernen, bei Filmen genau hinzusehen, würde einem vielmehr zeigen, was sich alles in den Bildern an Rätselhaftem versteckt und möglicherweise im Widerspruch steht zu dem, was angeblich erzählt werden soll. In ähnlicher Weise plädiert auch der Medien- und Erziehungswissenschaftler Manuel Zahn in seinem Buch «Ästhetische Filmbildung» für einen Umgang mit Filmen, der mehr einem neugierigen Spuren­lesen als dem falschen Ideal eines restlosen Ausdeutens verpflichtet ist. Gewiss, Filme wollen verstanden und die von ihnen ausgelegten Fährten sollen nachge­zeichnet werden – doch nicht um sie damit gleichsam zu erledigen und abzuhaken, sondern um die Filme aufzuschliessen und um aufzuzeigen, was alles an ungeklärten Fragen nach wie vor zur Diskussion anstachelt. In seinen abweichenden Bewegungen eignet dem Film immer etwas an, das sich dem restlosen Verständnis entzieht, das uns aber umso mehr affiziert, uns packt und uns weiter dazu antreibt, unsere Wahrnehmung noch mehr zu schärfen, unsere Spurenlese noch weiter zu verlängern.

Derart unterschiedliche Werke wie die wimmelbildartigen Komödien Jacques Tatis oder die Thriller David Finchers sind zugleich auch Lektionen in Kino, indem sie vorführen, dass die Lust des filmischen Spurenlesens nicht in der Erreichung einer letztgültigen Botschaft liegt, sondern im Prozess des Spurenlesens selbst. Die Gags in Tatis Les vacances de Monsieur Hulot oder in seinem überbordenden Playtime werden uns nicht didaktisch erklärt, sie müssen vom Betrachter gesucht werden – ohne Aussicht auf Vollständigkeit. Jedes Wiedersehen dieser Filme hält neue Entdeckungen bereit, und wenn wir bei deren Anblick lachen, dann ist es nicht, weil wir den Film im Griff haben, sondern vielmehr umgekehrt, weil wir merken, wie er mit uns spielt. Die Lust zum Beispiel, die wir empfinden, wenn wir am Ende von Playtime im Autokreisel ein Karussell erkennen, besteht nicht darin, den Witz verstanden zu haben, sondern vielmehr in der überraschenden Erkenntnis, dass man die eigene Wahrnehmung so erweitern kann, bis man einen simplen Autostau als Poesie erlebt. Wie das Karussellfahren auf dem Jahrmarkt, das ja auch nirgends hin, sondern nur immer im Kreis führt, dessen Reiz also nicht in einem Ziel, sondern im Vorgang selbst liegt, lässt sich auch der Genuss, den wir bei dieser Szene empfinden, nicht auf eine message bringen, sondern besteht im schieren Erleben des Films als Medium: Dass sich da plötzlich etwas dreht, dass da plötzlich Farben leuchten und Musik erklingt, mithin, dass der Film etwas macht, was wir noch immer nicht ganz verstehen, das ist es, was uns so packt.

Explizit zum Filmthema macht dies auch David Finchers Zodiac, dessen Serienkillergeschichte eben nicht auf eine eindeutige Lösung hinausläuft. Vielmehr erweist sich die pure Lust an der Nachforschung als deren eigener Motor. So wie man Kreuzworträtsel nicht löst, weil einen die ausgeknobelten Wörter interessieren, sondern einzig um der Knobelei willen, erweist
sich das Spurenlesen in Zodiac als unendliche Analyse, die einen gerade deswegen nie mehr loslässt. Die Lektion von Zodiac gilt mithin für das Medium Film an sich: Als notwendig dynamisches Phänomen ist der Film nie ganz zu erledigen, sondern bleibt offen. Film ist immer auf Abwegen.

Gegen die Zähmung des Films

Aber ist es nicht heikel, für eine Filmbildung zu plädieren, die, statt eindeutige Deutungsmuster zu vermitteln, nur noch stärker den Rätselcharakter von Filmen betont? Die weniger Kanon und Regelwerk, sondern vor allem tappende Neugier lehren will. Sind die Schüler von heute nicht ohnehin schon derart von der Flut der auf sie einströmenden Bewegtbilder überfordert, sodass ihnen die Medienpädagogik dringend Werkzeuge geben muss, um diese Bilder eindeutig ordnen und klassifizieren zu können?

In der Tat ist nicht zu bestreiten, dass wir in massiv höherem Mass Bewegtbildmedien konsumieren als alle Generationen zuvor. Die Mobiltelefone, die wir mit uns herumtragen, sind bekanntlich allesamt auch Vorführgeräte, die es uns erlauben, pausenlos und vor allem überall Filme zu schauen. Fragwürdig aber bleibt, ob diese Allgegenwart bewegter Bilder tatsächlich auch noch Erfahrungen einer anderen Wahrnehmung bereithalten. Wie Lars Henrik Gass in seiner Streitschrift «Film und Kunst nach dem Kino» eindrücklich ausführt, bedeutet der Auszug des Films aus den Kinosälen und seine Ausbreitung auf unseren Heimgeräten zugleich auch eine Kastration seiner Andersartigkeit. Das Kino, schreibt Gass, war nicht zuletzt darum bedeutsam, weil es schon ob seiner Einrichtung zu einer fremden Wahrnehmung zwingt: Im Kino kann man als Zuschauer den Film nicht anhalten, und die Dunkelheit des Saals lässt uns kaum eine andere Wahl, als das anzuschauen, was auf die Leinwand projiziert wird. Wir sind einer Erfahrung ausgesetzt, die wir nur in geringem Mass bestimmen können, der wir uns vielmehr überlassen, in sie eintauchen, um uns, für die begrenzte Dauer eines Films, in ihr zu verlieren.

Demgegenüber hat der Filmkonsum auf meinem Tablet etwas merkwürdig Gezähmtes. Wo im Kino der Film mein ganzes Gesichtsfeld einnimmt, findet er auf dem Computerscreen bloss als ein Fenster unter anderen statt. Auch wenn ich in den Vollbildmodus wechsle, hab ich damit die Umgebung um mich herum trotzdem noch nicht ausgeschaltet. Während das Kino mich zur Fokussierung gezwungen hat, schenke ich dem Film auf meinem Display meine Aufmerksamkeit immer nur zum Teil. Die Unsitte, während man einen Film schaut, nebenher noch etwas anderes zu machen, wird von unseren Geräten nicht nur begünstigt, sondern ist eigentlich deren Standardeinstellung, etwa wenn beim Eingehen einer Mail sich eine Info-Anzeige vor das Filmfenster schiebt. Und statt dass wir den Bewegungen des Films folgen müssen, passen wir den Film unserem Willen an: Bereits ein Knopfdruck genügt, und der Film stoppt. Wo er mir zu lang zu gehen scheint, spule ich vor. Das ist praktisch und fatal zugleich. Die erleichterte Handhabung ist gerade das, was die Möglichkeiten des Films als Wahrnehmungsexperiment zu unterhöhlen droht. Gass schreibt: «Der Film wird zum Game. Game ist die Konsequenz des bewegten Bildes nach Kino und Fernsehen: ein narzisstisches, weil manipulierbares Bild (das gleichwohl manipulativ sein kann).»

Mit diesen Möglichkeiten, den Film unter Kontrolle zu bringen, scheint nicht zuletzt auch unsere Geduld zu schwinden. Je länger wir bei einem Film ausharren sollten, umso mehr juckt es uns in den Fingern, weiterzuklicken. Unsere Aufmerksamkeitsspanne reicht nur noch einen Clip lang, was sich in unseren Sehgewohnheiten niederschlägt. In den Statistiken von Youtube wird ein Film bereits als «gesehen» verbucht, wenn man nur zehn Sekunden daran hängen geblieben ist. Bei Facebook ist der Leitwert gerade mal drei Sekunden. Um das Eintauchen in eine andere Wahrnehmung, das machen diese Zahlen unmissverständlich klar, kann es hier kaum gehen. Ganz im Gegenteil soll gerade alles vermieden werden, was den geradlinigen Konsum ins Stocken und auf Abwege bringen könnte. Die digitalen Interfaces werden so gestaltet, dass man möglichst glatt von einem Clip zum nächsten scrollen kann. Die Timeline droht, alle Differenzen einzuebnen.

Für eine andere Zeitlichkeit

Darum wäre zu überlegen, ob unser Problem mit der aktuellen Bilderflut vielleicht gar nicht daran liegt, dass wir mit so vielen verschiedenen Erfahrungen konfrontiert sind, sondern vielmehr daran, dass alles so gleichförmig anmutet. Statt durch widersprüchliche Eindrücke hysterisiert zu werden, leiden wir vielleicht eher an einer Erschöpfungsdepression, weil auf unseren kleinen Displays alles so schrecklich gleich aussieht.

Unsere Angewohnheit, möglichst rasch von Clip zu Clip zu eilen, ohne uns lange aufhalten zu lassen, hat paradoxerweise keine überraschenden Abweichungen, sondern nur Monotonie zur Folge. Die abweichenden Bewegungen eines Films wahrzunehmen, setzt hingegen voraus, dass man sich überhaupt die Zeit nimmt, sich auf diese Bewegungen einzulassen. Was uns heute an Filmen überhaupt als das Abweichendste und Provozierendste vorkommt, ist wohl genau, dass sie über eine andere, gedehntere Zeitlichkeit verfügen. Dass man nicht nur sekunden-, sondern minuten-, ja stundenlang verbleiben kann auf einem Gesicht wie in Sergio Leones C’era una volta il West, auf einem Zimmer wie in Sidney Lumets 12 Angry Men, auf einem Hinterhof wie in Alfred Hitchcocks Rear Window oder auf einer Stadtlandschaft wie in Thomas Imbachs Day is Done ist heute noch unerhörter als zum Zeitpunkt ihrer jeweiligen Premiere.

Filmbildung hiesse demnach nicht zuletzt, den Filmen wieder zu erlauben, dass sie sich ihre Zeit nehmen. Diesbezüglich war das Dispositiv des Kinos eine Konzentrationshilfe. Wenn diese fehlt, wird man sich Alternativen überlegen müssen, wie man es schafft, die Geräte um einen herum auszuschalten und sich selbst ganz auf den Film einzustellen. Für die Pädagogen hiesse es, sich mit ihrer Klasse nicht nur an einen Film heranzutrauen, sondern auch bei diesem zu bleiben und sich die Zeit zu nehmen, ihn mehrmals anzuschauen – nicht um etwas einzupauken, sondern um Vielfältigkeit zu zeigen. Denn gerade die Wiederholung, schreibt Roland Barthes, bringt Pluralität hervor: «Eine wiederholte Lektüre – eine Operation, die den kommerziellen und ideologischen Gewohnheiten unserer Gesellschaft zuwiderläuft, die es gerade nahelegen, die Geschichte ‹wegzuwerfen›, sobald sie konsumiert worden ist – sie allein bewahrt den Text vor der Wiederholung (wer es vernachlässigt, wiederholt zu lesen, ergibt sich dem Zwang, überall die gleiche Geschichte zu lesen), vervielfältigt ihn in seiner Verschiedenheit und in seinem Pluralen.» Wer immer nur weiterzappt, -wischt oder -klickt, sieht überall dasselbe. Wer das Gleiche mehrmals sieht, erkennt laufend Anderes.

Zukunft der Filmbildung

Während sich unsere Schulen aufgrund ihrer eng getakteten Lehrpläne kaum Zeit für die Betrachtung von Filmen und schon gar nicht für ein wiederholtes Sehen zu nehmen trauen, sind aktuelle Beispiele, wie ein solcher Unterricht aussehen könnte, anderswo zu finden. Videoessays etwa auf Onlineplattformen
wie vimeo führen vor, dass die neuen Möglich­keiten des Internets, die einerseits zu der oben be­schriebenen Homogenisierung von Wahrnehmung führen können, sich im Gegenteil auch nutzen lassen, um Filmen ihre Andersartigkeit wieder zurückzugeben. So wie einst Jean-Luc Godard mit seinen ­Histoire(s) du cinéma oder Harun Farocki mit Filmen wie Der ­Ausdruck der Hände das Medium Video ge­nutzt haben, um über die Verfremdung vom analogen Kino- zum elektronischen Fernsehbild zu zeigen, was im Film immer schon fremdartig war, widersetzen sich auch Videoessays von Kritikern wie Kevin B. Lee oder Filmwissenschaftlerinnen wie Catherine Grant dem eiligen, glatten Konsum. Lees brillante Analyse vom Verwertungssystem des zeitgenössischen Blockbuster-Kinos in Transformers. The Premake oder Grants Befragungen des Filmbilds in sensiblen Essays wie Un/Contained oder Carnal ­Locomotive haken sich gerade an dem fest, was an Filmen noch immer nicht verstanden ist.

Und dies ist natürlich auch die Rolle, die der Filmkritik zukommt. Gerade weil das Dispositiv des Kinos im Verschwinden begriffen ist, wird es umso wichtiger, an andern Orten jenen Raum zu schaffen, wo sich das Wahrnehmungsexperiment des Films entfalten kann, wie auch Tereza Fischer in ihrem Essay in der letzten Ausgabe von Filmbulletin ausgeführt hat: «Denn es genügt nicht, nur viele Filme zu sehen. Zur Auseinandersetzung mit Film gehört das Lesen unmittelbar dazu.» Das Lesen über Film wird nach dem Ende des Kinos nicht obsolet, sondern sogar noch wichtiger. Auch eine Zeitschrift wie die unsere versteht sich als essenzieller Beitrag zur Filmbildung, indem sie sich mit ihren Texten die Zeit nimmt, um den abweichenden Bewegungen des Films nachzugehen. Hingegen mitzumachen bei der Anpassung des Films an unsere Konsumgewohnheiten, indem man ihn zum schnellen Häppchen reduziert, das sich mittels Kritik in Tweet-Länge und schnell überschaubarer Sternchenvergabe verdauen lässt – solche Anbiederung ist nicht nur überflüssig, sondern wird vor allem das Interesse an dieser Kunstform nicht erhalten können. Wenn der Film nur noch vertraute Wahrnehmung konsolidiert, braucht es ihn tatsächlich nicht. Denn dann wäre das Medium selbst zu jenem Kerker geworden, aus dem Antoine Doinel in Les 400 coups ausgebrochen ist.

Lernen, was man noch nicht weiss

Worauf Filmbildung stattdessen hinarbeiten müsste, wäre jene Pädagogik der gemeinsamen Erforschung, wie sie Jacques Rancière in seinen Büchern «Der unwissende Lehrmeister» und «Der emanzipierte Zuschauer» skizziert hat. Statt eines Bildungssystems, das dem Lehrer die Position des Wissenden und dem Schüler die Position des Unwissenden zuweist, entwickelt Rancière die Idee eines Lernens als Prozess im Verbund. Der «unwissende Lehrmeister», wie in Rancière nennt, ist nicht etwa einer, der nichts weiss, sondern vielmehr einer, der versucht, mit seinen Schülern dem nachzuspüren, was man noch nicht weiss: «Er lehrt seine Schüler nicht sein Wissen, er trägt ihnen auf, sich ins Dickicht der Dinge und Zeichen vorzuwagen, zu sagen, was sie gesehen haben, und was sie über das denken, was sie gesehen haben, es zu überprüfen und überprüfen zu lassen.» Statt eines Lernprogramms auf vorgespurtem Weg wäre dies eine Bildung in abweichenden, aber und gerade dadurch weiterführenden Bewegungen. Eine Bildung des Films.

 

Literatur:

Nach dem Film, Nr. 13: Filmvermittlung, http://www.nachdemfilm.de/content/no-13-filmvermittlung

Bettina Henzler, Winfried Pauleit u. a. (Hg.):  Vom Kino lernen, Berlin, Bertz+Fischer 2010

Lars Henrik Gass: Film und Kunst nach dem Kino.  Köln, StrzeleckiBooks 2017

Catherine Grant: http://www.filmanalytical.blogspot.ch

David Lapoujade: Deleuze, les mouvements aberrants.
Paris, Éditions de minuit 2014

Jacques Rancière: Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation. Wien, Passagen 2007

Manuel Zahn: Ästhetische Filmbildung. Bielefeld, transcript 2012