Gespräch mit Karolin Trachte im Programmheft Schauspielhaus Zürich: Programm Nr. 4 (Saison 2018/19) S. 8-22 ///
Karolin Trachte: Blanche flieht aus ihrem alten Leben zu ihrer Schwester Stella. Sie lässt eine ruinierte Familiendynastie zurück und die meisten Verwandten sind über die Jahre verstorben. Was für eine Welt geht da unter?
JB: Tennessee Williams hat dem Stück ein Zitat des Dichters Hart Crane vorangestellt, darin gibt es den Satz „I entered the broken world“. Diese gebrochene Welt ist einerseits eine psychische Welt – die zerbrochene Welt von Blanche – andererseits ist das etwas Konkretes, nämlich die zerbrochene Welt des alten Südens. Diese Backstory ist absolut wesentlich, aber wird leicht übersehen oder aus europäischer Perspektive nicht so wichtig genommen. Dieser Süden, aus dem Blanche kommt, ist ein besonderer Ort, er hat selbst eine höchst widersprüchliche und zerbrochene Geschichte. Schon vor dem Bürgerkrieg ist er ein Ort von grossem Wohlstand und grosser Armut – was ja zusammenhängt. Die Plantagenbesitzer leben wie in einer europäischen Aristokratie, die auf dem Rücken von Sklaven existiert. Es ist ein Ort der Ausbeutung, auch der sexuellen – Sklavinnen werden von ihren Besitzern geschwängert, die Kinder, die daraus hervorgehen, haben aber keinen sozialen Status. Das ist ein extrem brodelnder, widersprüchlicher Ort. Und dies führt zum Bürgerkrieg, in dem der Süden sich abspalten will, aber besiegt wird und durch das Verbot der Sklaverei seinen Niedergang erlebt. Die Plantagen gehen zugrunde, die luxuriösen Paläste verfallen. Das ist die Stimmung, aus der Blanche kommt und die sie verkörpert. Sie ist eine Aristokratin, die den Untergang iher Familie erlebt hat. Dieses Motiv hat eine lange Tradition in der amerikanischen Literatur- und Kulturgeschichte; das Genre nennt sich Southern Gothic. Also eigentlich eine Art „Südstaaten-Horror“. Seine Anfänge findet man schon vor dem Bürgerkrieg bei Edgar Allan Poe zum Beispiel in „The Fall of the House of Usher“. Zu den Elementen des Genres gehören die aristokratische Familie im Niedergang, der religiöse Wahn, die Gegenüberstellung von Schwarz und Weiss, die Gewalt und immer das Morbide. Die Sexualität wird häufig als inzestuös oder moralisch zweifelhaft beschrieben – Usher hat zum Beispiel mit seiner Schwester eine Beziehung. Und das zieht sich weiter durch das Southern Gothic bei Autoren wie Ambrose Bierce oder Flannery O’Connor, ganz besonders natürlich bei William Faulkner. Das Genre setzt sich bis heute fort, bei- spielsweise mit der letztjährigen Podcast-Sensation „S-Town“ oder der Vampirserie „True Blood“. Deren Vorspann ist eine regelrechte Zusammenfassung von Southern-Gothic-Elementen. Mit solchen arbeitet auch Tennessee Williams. In späteren Stoffen wie „Baby Doll“ oder „Suddenly Last Summer“ intensiviert er diesen Stil noch.
Auch ein Element des Southern Gothic ist dessen überladener Symbolismus. Tennessee Williams ist einfach nie cool, er ist immer „heiss“. Manchmal haben wir ja die Tendenz, dass wir das Distanzierte, Coole, Ironische sehr bewundern, und ich denke, Williams ist das alles nicht. Williams ist überladen, überhitzt, schreiend, schwitzig – und das kann einem als Leser, Leserin, Publikum, Theatermacher auch zu weit gehen, zu pathetisch sein. Auch das grotesk Gruselige. Zum Beispiel die abwesende kranke Mutter von Mitch finde ich ziemlich unheimlich. „Sie sind nicht achtbar genug, um Sie meiner Mutter mit ins Haus zu bringen“, sagt er zu Blanche. Da denkt man gleich, da sitzt wahrscheinlich so eine Leichenmutter wie in „Psycho“ zu Hause in einem quietschenden Schaukelstuhl …
Bei Tennessee Williams kommt zu den Elementen des Southern Gothic auch eine starke psychoanalytische Aufladung hinzu. Wie hängt beides zusammen?
Es gibt eine Affinität zwischen beidem. Man könnte sagen, der Süden Amerikas fungiere als so etwas wie das Unbewusste des ganzen Landes. In dem Sinne ist der Süden das überkommene, dekadente Europa, die Aristokratie, aus der man geflohen ist, die aber reimportiert wird und nochmals untergeht. Der amerikanische Bürgerkrieg hat nie wirklich aufgehört, er geht in gewisser Art und Weise weiter. Bierce in seinen Bürgerkriegsgeschichten, aber auch Walt Whitman in seinen Gedichten haben dieses Bild des vom Blut durchtränkten Boden, dem Blut der im Bürgerkrieg Getöteten, aufgenommen. Bierce kreiert seine Horrorgeschichten aus den Erfahrungen des Bürgerkriegs. Die Toten kommen wieder aus der Erde wie Zombies. Da schwelt etwas im Boden und bricht immer wieder hoch. Das zeigt sich bis heute beispielsweise in einem Kult des Reenactments; es werden bis heute Schlachten des Bürgerkriegs nachgestellt. Auch Ereignisse wie die rechtsradikalen Demonstrationen „Unite the Right“ in Charlottesville zeigen, dass die Konflikte des Bürgerkriegs in den Köpfen noch nicht verschwunden sind.
Mehr noch als in den Unabhängigkeitskriegen definiert Amerika seine Identität in diesem Bürgerkrieg – und wird ab hier eben auch zu einem ewig zerrissenen Land, in dem das Verdrängte immer geisterhaft wiederkehrt. Es gibt in Faulkners „Requiem for a Nun“ diesen berühmten Satz: „The past is never over, it’s not even past.“ Und das ist – könnte man sagen – ein Slogan für das ganze Southern Gothic und sicher für Tennessee Williams. Die Geschichte mit Blanches „boy“, ihrem Ehemann Allan, der sich das Leben nahm, ist für Blanche das dramatische Ereignis, das sie nie loswird. Sie ist gezwungen, es immer wieder zu durchleben.
Sie wird davon heimgesucht.
Absolut, sie ist „haunted“, wie von Geistern verfolgt. In Williams Stücken kommt immer etwas wieder, von dem man dachte, man hätte es hinter sich gelassen. Blanche selbst ist auch eine Verkörperung davon: Stella meint, sie habe das alte Leben der Familie DuBois auf dem Landgut „Belle Rêve“ hinter sich gelassen – aber es kommt verkörpert in Blanche wieder zurück. Blanche ist auch ein Geist, sie ist zwar „haunted“, aber eben auch „haunting“. Das ist sie sogar für Stanley, indem sie für die Tradition einer europäischen Aristokratie steht, für ein anderes Amerika, für den Luxus, die herrschaftlichen Ansprüche und die „good manners“, die er abwerfen möchte. Es macht ihn unheimlich aggressiv.
Im Stück stellt sich die Frage, weshalb Stanley, der eigentlich für eine aufgeschlossene Sexualität steht, Blanche ihre Promiskuität zum Vorwurf macht. Ist es das Heuchlerische, das ihn aggressiv macht, dass Blanche gleichzeitig das Bild einer reinen, unbefleckten Dame aus höherem Hause aufrechterhalten will?
Ja, was ihn aggressiv macht – und das ist aktuell auch hochbrisant –, ist Blanches Haltung, sie sei etwas Besseres als er. Das haben wir ja auch bei den Präsidentschaftswahlen wieder erlebt: Es gibt ein unglaubliches Ressentiment gegen die Upper Class, gegen die, die aus der besseren Gesellschaft kommen. Die Tatsache etwa, dass Obama sich immer so elegant ausdrücken konnte, fanden wir Europäer sehr sympathisch. Viele Amerikaner hingegen empfanden das als einen Affront. Und während wir es so unglaublich lächerlich finden, wenn Trump keinen geraden Satz herausbringt, gereicht ihm das bei seinen Wählern überhaupt nicht zum Nachteil. Ich muss auch an diesen rassistischen Slogan aus Charlottesville denken: „You will not replace us“. Es schliesst an diesen alten Kulturkampf an, wenn Blanche behauptet, sie komme aus einer anderen Klasse als Stanley.
Jetzt könnte man meinen, dass das Stück einen früher oder später verleitet, Partei zu ergreifen – für Blanche oder Stanley. Aber stattdessen bleiben beide Figuren ambivalent.
Ja, es ist wichtig, diese Figuren nicht als Repräsentanten eines einzigen Prinzips zu sehen. Blanches grosse Melancholie gegenüber dem Süden, die Sehnsucht, ihn erhalten zu wollen, kannte Tennessee Williams auch. Einerseits war er durch seine Homosexualität und den Konflikt mit dem Vater quasi ein „Outcast“, ein Verstossener. Andererseits wechselt er seinen Namen von Tom zu Tennessee (wie der US-amerikanische Bundesstaat, der zu den Südstaaten zählt). Und es gibt auch Zitate, wo er sagt, der Süden sei eine Welt gewesen, die auf einer wirklichen, tradierten Kultur basiere und nicht auf dem Geld, wie im Norden. Und umgekehrt bleibt Stanley Kowalski auch widersprüchlich.
Berthold Viertel schreibt im Programmheft zur deutschsprachigen Erstaufführung von „Endstation Sehnsucht“ am Schauspielhaus Zürich 1949, das Stück sei „Theater ohne politische Tendenz“. Würden Sie das auch sagen?
Nein, durch diesen Hintergrund der untergehenden Welt des Südens und auch den Konflikt zwischen den Klassen, also zwischen der Südstaatenaristokratie und der Arbeiterklasse, aber eben auch zwischen altem und neuem Amerika, zwischen Norden und Süden, würde ich sagen, dass es ein sehr politischer Stoff ist. Dem wird man nicht gerecht, wenn man es nur als Psychodrama zwischen drei Personen oder als familiäre, psychosexuelle Auseinandersetzung liest. Das hat auch eine aktuelle Brisanz, zum Beispiel wenn Blanche sagt, der sei degeneriert, dieser Kowalski, dieser „Polacke“. Oder wenn sie sagt, der Familienbesitz sei untergegangen wegen „fornication“, also unerlaubtem Sex, womit nicht zuletzt auch Sex über Rassenschranken hinaus gemeint ist. Man denke nur daran, dass die Mitglieder der heutigen amerikanischen rechtsradikalen Szene, der „Alt-Right“-Bewegung, derart betonen, dass sie europäischer Herkunft seien. Das sei ihre Kultur, sagen sie, und die dürfe nicht vermischt werden mit der angeblich fremden Kultur der Schwarzen. Diese Frage der Herkunft stellt sich in Amerika natürlich ganz besonders – gerade weil ja nahezu alle letztlich Einwanderer sind.
Welche Verbindung gibt es bei Tennessee Williams zwischen der Herkunft und der verdrängten Sexualität?
Natürlich spielt die Sexualität automatisch eine Rolle, wenn es um die Herkunft und Zugehörigkeit geht. Von wo stamme ich ab? Von wem wurde ich gezeugt? Darum sollte man die Sexualität bei Williams als Motiv nie nur im engen Sinne betrachten, als blosse Geschlechteridentität etwa. Die Promiskuität von Blanche wird von ihr selbst erklärt, wenn sie am Ende sagt „I have always relied on the kindness of strangers“. Es geht also um eine Suche nach Geborgenheit. Schliesslich die Vergewaltigung: da geht es auch nicht um sexuelle Lust im engeren Sinne, sondern es geht um Gewalt und die Macht, jemanden zu zerstören. Es ist eine Methode, wie Stanley diese Frau, die sich für etwas Besseres hält, zerstört. Der ultimative Vergewaltigungsakt besteht darin, dass er den Lampenschirm, der das Licht dimmt, von der Lampe wegreisst. Da ist er ganz der brutale Realist – er nimmt ihr die Imagination und Blanche zerbricht daran.
Tennessee Williams wird immer wieder vorgeworfen, dass er kein positives Bild der Homosexualität in seinen Stücken zeichnet.
Es ist etwas einfach, ihm das aus heutiger Perspektive vorzuwerfen – er schreibt in den 40er Jahren natürlich in einer ganz anderen Situation. Zumal der Aspekt der Homosexualität in seinen Texten meistens für die Verfilmungen, wie zum Beispiel bei „Die Katze auf dem heissen Blechdach“, massiv entschärft wurde. Ich glaube aber, dass sich bei ihm insgesamt kein positives Bild von Sexualität zeigt, weder heterosexuell noch homosexuell. Es gibt den Wunsch und die Sehnsucht nach Geborgenheit, die aber nicht zwingend sexuell motiviert sind. Und dann gibt es eine Gewalttätigkeit, die sich auch sexuell äussern kann. Sicher ein wesentliches Motiv für Tennessee Williams ist das Leiden an der eigenen Sexualität und der Kampf gegen bestimmte Geschlechterstereotypen. Das ist vor allem bei seinen Männerfiguren interessant und meist bei denen, die gar nicht explizit vorkommen, sondern auf die nur verwiesen wird. Allan, der gar nicht auftritt, ist beispielsweise so ein Fall. Wir erfahren, dass er sich das Leben nahm. Er war „zu weich“, zu sensibel, um in dieser Welt überleben zu können. Das ist sicher auch biografisch ein Motiv, das Williams beschäftigt hat: als Homosexueller in dieser Zeit einer bestimmten Vorstellung von Männlichkeit nicht zu entsprechen.
Und für die Frauenfiguren ist die Sexualität besonders häufig geknüpft an eine unterdrückte, verbotene Lust.
Ja, das verbindet sich mit dem Motiv der untergehenden, „besseren“, aristokratischen Südstaatenwelt. Die weissen Kleider, die feinen Manieren, man trägt Handschuhe, nichts darf angefasst werden – dieser ganze Reinheitswahn, eben auch die Hautfarbe betreffend. Als Blanche bei Stella ankommt, sind die Kleider natürlich schon längst nicht mehr makellos sauber. Aber das wird explizit gemacht in der Szene, in der ausgerechnet Cola auf ihr Kleid sprudelt. Blanche gibt einen hysterischen Schrei von sich. Das ist eine Metapher, die sich durchs Stück zieht. Das, was vermeintlich weiss und rein ist – wie auch der Name „Blanche“ –, wird entlarvt. Es zeigt sich, dass vieles ambivalenter und schmutziger ist, als man es sich eingestehen will.