Dem Ereignis begegnen

Filmbulletin #7 (2017), S. 24-25 ///

Die Dichtform des Haiku, so schreibt Roland Barthes in [Das Reich der Zeichen], macht uns sprachlos nicht trotz, sondern gerade wegen seiner scheinbaren Einfachheit. «Was soll man dazu sagen?» fragt sich Barthes angesichts eines Gedichts wie dem folgenden:

Vollmond
Und auf der Matte
Der Schatten einer Kiefer.

Wie soll man kommentieren, was in seiner kargen Klarheit keinerlei Erläuterung zu brauchen scheint? Die Worte, die für jedermann verständlich sind, nehmen uns gerade dadurch alle Möglichkeiten, ihnen mit Deutungen beikommen zu wollen. Statt symbolisch auf etwas anderes zu verweisen, steht das Haiku für nichts als für eine reine Schau des Ereignisses. «Das Haiku, das mit einer Metaphysik ohne Subjekt und ohne Gott verbunden ist, entspricht dem buddhistischen Mu oder dem Satori des Zen, die nichts mit einer erleuchteten Versenkung in Gott zu tun haben, sondern ein ‹Erwachen vor der Tatsache› bedeuten, ein Ergriffensein von der Sache als Ereignis.» Vielleicht ist es das, was uns auch in <Schindlers Häuser> von Heinz Emigholz so erschüttert: die Einsicht, dass all unsere gut eingeübten Techniken der Interpretation unweigerlich versagen angesichts der Bilder dieses Films, die nichts erzählen, als das, was sie selber sind: Ereignisse. Denn was man sonst an Filmen nachzuverfolgen geübt ist – Figuren, Themen, Stories, Plots – das alles ist aus den Räumen dieses Film ausgezogen. Zurück bleiben die Räume selbst und das, was sich in ihnen zufällig versammelt.

Was soll man dazu sagen, zu Einstellungen wie etwa jener, acht Minuten nach Filmanfang, die uns einen Winkel im Hof des Kings Road House zeigt, gebaut 1921 bis 22, in West Hollywood, Los Angeles, gefilmt am 27. Mai 2006? Sieben Sekunden dauert diese Einstellung bloss, doch sie zu beschreiben wird zu einem unmöglichen Unterfangen, weil dies nämlich voraussetzen würde, dass wir uns zu orientieren und das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden wüssten. In dieser, wie in allen anderen Einstellungen von <Schindlers Häuser> aber gibt es nichts, was unwesentlich wäre und nichts, was beanspruchen könnte, stärker im Zentrum zu stehen, als irgendetwas etwas anderes. Selbst die Gebäude von Rudolph Schindler, um die es dem Titel des Films nach angeblich geht, sind nicht wichtiger, als alles andere, um sie herum.

«Irgendwo auf diesem Bild ist ein Haus von Rudolph Schindler versteckt» sagt eine Stimme zu Beginn des Films und fährt fort, dass es keinen Sinn mache, Bauwerke aus ihrer Umgebung isolieren zu wollen. «Wir sind umgeben von einem Verhau aus Verkehrsanlagen, umbautem Raum, asphaltierten Flächen, Propaganda und Brachen mit mehr oder weniger zufälligem Bewuchs – eine Realität, komisch und tragisch zugleich, die alles in den Schatten stellt, was das Ego eines einzelnen Architekten zu bieten hätte. Zu sagen, all dies trüge den Namen einer identifizierbaren Gestaltung, wäre ein Witz und dazu ein Verbrechen an der Originalität einer gesamtgesellschaftlichen Autorenschaft, die in all ihren Anwandlungen und Veränderungen anonym bleiben wird. Ein Film, der dagegen noch einmal wagen würde und sagen würde: ‹Hier ist etwas, das trägt den Namen eines bestimmten Gestalters›, wäre in diesem Sinne ein Verbrechen.»

Statt also das versteckte Haus aus dem Verhau Stadt herauszulösen, so wie man in Wimmelbüchern nach der sich versteckenden Hauptfigur sucht, geht es hier vielmehr darum, das Wimmelbild selbst zu betrachten. Demokratisch. Die einzig adäquate Beschreibung jener sieben Sekunden dauernden Einstellung von <Schindlers Häuser> könnte demnach nur sein, ganz genau alles aufzuschreiben, was sich zu sehen und zu hören gibt, nichts auszulassen, so wie auf jener verrückten Landkarte in einer Erzählung von Jorge Luis Borges, welche die Welt abbildet im Massstab 1:1. Man müsste also nicht nur von der optisch vertrackten Konstruktion von Schindlers Haus schreiben, dessen Holzlatten sich ineinander schieben, ein Geflecht bilden aus Öffnungen und Schliessungen, mit vielen Fenstern, die sich gegenseitig reflektieren, mal Durchsicht schaffen, mal den Blick abweisen, sondern auch von der Maserung des Holzes davon, wie die Scheiben leicht uneben sind, so dass die Reflexe auf auf ihnen zusätzlich verflüssigt scheinen. Man müsste von all dem schreiben, was sich da ebenfalls mit in die Aufnahme des Hauses geschoben hat: Das Stücklein getrimmter Rasen, am unteren Bildrand. Der lose gewordene Mörtel, dort, wo die Bodenplatten an die Hauswand stossen und das kleine Steinchen, das auf dem Weg liegt. Man müsste über den Wasserfleck, rechts oben an der weissen Hauswand schreiben, der nach links hin aufsteigt, wie ein Diagramm oder eine Fieberkurve und über den rosafarbenen Fleck (ist es die Blüte einer Blume?), den wir in der linken oberen Ecke des Bildes, zwischen Holzplanken und durch eine Glasscheibe hindurch leuchten sehen. Man müsste über die Büsche und Bäume, auf der anderen Seite des Gebäudes schreiben, deren Laub sich im Wind leicht bewegt, über die farnartigen Pflanzen, deren Blätter wir durch die Scheiben hindurch leicht zittern sehen und über jene Zweige, die bereits über das Geländer der Dachterasse vorgedrungen sind, so dass es aussieht, als hätte dort die Natur bereits angefangen das Haus langsam zu verschlingen. Man müsste mithin die Bewegungen jedes einzelnen Blattes aufzeichnen, wie es zwischen dem Druck der Luft und dem Widerstand seiner Zweige hin und her pendelt. Man müsste über die sieben Mücken schreiben, die wir als blosse Lichtsprenkel im Hof herumschwirren sehen. Man müsste ihre je unterschiedliche Flugbahnen zu kartographieren versuchen, müsste nachzeichnen, wie sie mal aufsteigen, dann plötzlich nach rechts abdrehen, nach unten abweichen, sich mal um sich selbst drehen und dann wieder rasend schnell vorbeizucken. Man müsste über die Schrift schreiben, die man allenfalls vage und unleserlich durch die Scheiben auf der rechten Seite sieht: Zweimal fünf Zeilen. Ob es sich um Gedichte handelt? Und über all jene schemenhaften Schattenpartien, als Spiegelungen auf den Fenstern ebenso, wie in den Zimmern dahinter.

Natürlich müsste man auch über die Kamera schreiben, die der Filmemacher in seinem Film nie lotrecht, sondern immer mit leichter Schräglage aufgestellt hat, so dass sich alle Senkrechten eines Gebäudes zur Seite neigen, so dass wird das Gefühl bekommen, als würde im nächsten Moment das ganze Haus ins Rutschen geraten, so wie die geladenen Kisten im Rumpf eines schwankenden Schiffes. Und man müsste über die Geräusche schreiben, die uns die Tonspur zu hören gibt und über die zusätzlich eine ganze unsichtbare Welt in dieses Bild hineinragt – eine Welt, die wir zwar nicht sehen, von der aber all das, was wir sehen, zugleich nur ein Teil ist. Man müsste also schreiben über das dumpfe Rauschen des Windes und das ferne Brummen des Verkehrs von Los Angeles, über die Stimmen der Vögel und über das kurze Hupsignal, das am Ende der Einstellung die vermeintliche Monotonie stört. Man müsste aber auch über das weit weniger auffällige Geräusch vom Auf- oder Zuklappen eines Fensters schreiben, das kurz davor zu hören ist und folglich auch über den Menschen, der da gerade ein Fenster geöffnet oder geschlossen hat, beim Fensterputzen möglicherweise und der in dem Fall wohl nicht der Hausbesitzer, sondern ein Bediensteter ist, der nicht in West Hollywood lebt, sondern in einem der weniger privilegierten Quartiere der Stadt. Man müsste demnach auch über soziale Praktiken und politische Gewalt schreiben. Über Klassenunterschiede, die gerade auch durch die kalifornischen Architekturvisionen des von Schindler mit angestossene International Style weniger überwunden, als vielmehr verschärft wurden, insofern deren Bauten mit Vorliebe dort entstanden, wo die bessere Gesellschaft wohnt. Man müsste also über jene Segregation schreiben, wie sie auch auf den ikonisch gewordenen Architekturfotografien eines Julius Shulman betrieben wird, wo all jene aus den Bilder ausgesperrt sind, die – wie es in Kevin Vennemanns L.A.-Buch «Sunset Boulevard» heisst – «sich eine längst elitäre Architektur nicht leisten können, die irgendwann einmal für sie hatte entwickelt werden sollen.» Menschen, die Fenster öffnen, um sie zu putzen, sind auf Shulmans Bildern tatsächlich nirgends zu sehen. Hier hingegen machen auch sie sich bemerkbar. Über sie müsste man schreiben, so wie über all das, was an sonst Verdrängtem in Heinz Emigholz’ Einstellungen unablässig hineindrängt – akustisch und visuell.

Ein Text, der all das aufschreiben wollte, käme nie an ein Ende, weil jedes Detail der Einstellung, sich seinerseits wieder in unzählige Details aufsplittern würde, so wie sich die Umrisse des Gebüschs im Hintergrund nicht exakt zeichnen liessen, weil die Umrisse jedes einzelnen Blatts selber wieder sich als eine endlos gefaltete Linie erweisen würden, als ein in die Unendlichkeit sich fortführendes Fraktal. Egal wie akribisch ein solcher Text verfahren würde, könnte er doch nur vage sich dem annähern, was das Haiku des Filmbildes in sieben Sekunden, in nur einer filmischen Geste, sozusagen auf einen Schlag zu zeigen vermag.

Das Haiku sei eine Kunst der Kontingenz, erklärt Roland Barthes in einer Vorlesungen von 1979 und deswegen auch eine «Kunst der Begegnung» – ganz getreu dem lateinischen Wort «contingere», das neben »zufallen» ja auch «sich treffen» bedeutet. «Ein Haiku ist das, was eintritt, insofern es das Subjekt [umgibt] – das jedoch nur existiert, sich nur Subjekt nennen kann dank dieser flüchtigen und beweglichen Umgebung.» Die Kontingenz des Haikus meint demnach nicht nur, dass uns in Form einer blitzhaften Ansicht begegnet, was sich zufällig an einem Ort ereignet, sondern dass in dieser flüchtigen Begegnung das betrachtende Subjekt selbst überhaupt erst erschaffen wird als eines, das nie für sich, sondern immer nur in Umgebungen existiert, im Verbund mit allem um es herum. Vielleicht hat man darum so grosse Mühe, das Sujet von Emigholz’ Film zu benennen, weil es gar nie allein im Bild und auf der Tonspur zu suchen war, sondern immer auch auf der anderen Seite, dort wo wir sitzen, in der Umgebung des flüchtigen Filmbildes, um in der Begegnung mit ihm erst zu werden.

Schindlers Häuser (D, Oe 2007) 00:08:00 – 00:08:07
Regie, Kamera und Schnitt: Heinz Emigholz; Mitarbeit und Ton: Volkmar Geibling, Christian Reiner, May Rigler, Markus Ruff.