Neue Zürcher Zeitung, 12.2.2016, S. 43 ///
„Das Hotel ist eine Methode des Nicht-Bleibens“ so schreibt der amerikanische Kulturwissenschaftler Wayne Koestenbaum in seinem kuriosen Buch „Hotel Theory“ und meint damit den widersprüchlichen Zustand, zwar an einem Ort abgestiegen, an diesem aber gleichwohl nicht Zuhause zu sein. Im Hotel befinden wir uns immer noch auf Reisen, wir bleiben unterwegs, auch dann, wenn wir uns in einem Sessel in der Lobby niederlassen. „Die Hotel-Existenz enthebt uns auf unheimliche Weise der Erdung. Im Hotel zu sein, bedeutet zu gleiten und zu schwimmen.“
Das mag denn auch erklären, warum der Film ein besonderes Faible fürs Hotel als Schauplatz hat: obwohl klar umgrenzter Raum, ist dieser doch in andauernder Bewegung. Das Hotel bietet der Filmhandlung maximale Stabilität und konstante Dynamik im gleichen Zug. Hotelfilme sind sozusagen „Road Movies“ auf Teppichen. Und dadurch, dass die Menschen von überall her im Hotel absteigen, vermag man den ganzen Globus in ein einziges Haus zu packen. Man macht „Weltreise durchs Zimmer“ wie es in einem Gedicht von Erich Kästner heisst. Eben dieser Kästner liefert denn auch die Vorlage für Kurt Hoffmanns Hotelfilm „Drei Männer im Schnee“, der exemplarisch zeigt, wie sich im Hotel Menschen nicht nur kreuzen, sondern dabei auch Rolle und Stand tauschen. Der schrullige Millionär Schlüter steigt in ärmlicher Verkleidung in einem noblen Berghotel ab. Die Direktion indes, vor diesem Inkognito-Besuch gewarnt, hält den arbeitslosen Werbefachmann Hagedorn für den heimlichen Millionär und bewirtet ihn, zu dessen eigener Verwunderung, fürstlich, während sie den tatsächlichen Schlüter in die schäbigste Dachkammer abschiebt. Im Hotel ist der Kunde nicht einfach König, er wird dazu gemacht. Und ebenso schnell sehen sich Autoritäten entmachtet. Ein Versehen des Concierge genügt und schon sind ganze soziale Ordnungen auf den Kopf gestellt. Das macht das Hotel auch zum Ort einer wirklich gewordenen Utopie, an dem die herrschenden Regeln der Gesellschaft, zumindest für eine Zeit lang, ausser Kraft gesetzt werden können. Im Hotel ist man unversehens wieder Kind, wie in Daniel Schmids verträumt-nostalgischem „Hors Saison“. Im Hotel gilt das Diktat der Chronologie nicht mehr, wie jüngst in Wes Andersons wunderbar verschachteltem, über mehrere Rahmenhandlungen und Zeitebenen hinweg erzählten Postkarten-Film „Grand Budapest Hotel“. Selbst das eigene Geschlecht verliert hier seine Gültigkeit, kommt ins Gleiten wie in Victor Jansons „Der Page vom Dalmasse-Hotel“, wo sich ein mittelloses Mädchen als Page ausgibt, um sich in dieser Funktion alsbald in einen adligen Gast zu verlieben. Gender Trouble und Märchenträume – auch sie logieren im Hotel.
Wie grausam diese Arbitraritäten des Hotellebens indes auch sein können, hat bereits Friedrich Wilhelm Murnau mit seinem Epoche machenden Stummfilm „Der letzte Mann“ gezeigt: der traurige Abstieg eines stolzen Portiers zum schäbigen Toilettenwärter zeigt, wie böse man ausrutschen kann im Gleit-Raum des Hotels. Sogar noch das Happy End, zu welchem sich Murnau auf Drängen der Produzenten genötigt sah und in welchem der tragische Held plötzlich zum Millionenerben gemacht wird, ist eigentlich gar nicht jenes Zugeständnis an den Massengeschmack, als das es bis heute verpönt ist. Vielmehr ist diese glückliche Fügung zum Schluss gerade das Gegenteil von beruhigend, bestätigt es doch endgültig, welch unberechenbare Willkür im Hotel herrscht: Wo ein Toilettenwärter auf einen Schlag zum Millionär gemacht werden kann, gibt es nichts mehr, worauf man sich verlassen könnte. So wie der Fahrstuhl durch die verschiedenen Etagen gleitet, bestimmt ein simpler Knopfdruck über Auf- oder Abstieg. Alles ist möglich. Aber das heisst auch: Nichts gilt mehr.
Siegfried Kracauer hat in seinem Essay zur „Hotelhalle“ diese als Gegenentwurf zum Gotteshaus gelesen. Während die in der Kirche versammelten Menschen sich auf den einen Gott ausrichten und damit zur Gemeinde werden, befinde man sich in der Hotelhalle „vis à vis de rien“: „Statt auf das Gottesverhältnis gründet sich in der Hotelhalle die Gleichheit auf das Verhältnis zum Nichts.“ Das Hotel als Begegnungsort der „schlechthin Beziehungslosen“ mit diesem sinn- und bodenlosen Nichts, das ist es denn auch, was uns Alain Resnais magischer „L’année dernière à Marienbad“ zeigt, mit seinen durch endlose Raumfluchten schlafwandelnden Hotelgästen. Und im Wahnsinn der totalen Negativität ist es auch, in welchem der schreibunfähige Schriftsteller Jack Torrence aus Stanely Kubricks „The Shining“ sich auflöst.
Gewiss kann man nicht wenigen Hotelfilmen den Vorwurf machen, dass ihnen mitunter der grosse dramatische Bogen fehlt und dass sie zu zerfallen drohen, in lose aneinander gefügte Episoden. Doch ist dies nur das zwangsläufiges Resultat jener Auflösung von Zusammenhängen, die Kracauer dem Hotelraum an sich attestiert. Das ist denn auch die Logik jener grossen Ensemblefilme wie etwa Edmund Gouldings Hollywood-Schlager „Grand Hotel“, und die kaum woanders spielen können, als eben hier. Jeder Star hat seine eigene Suite und seinen eigenen Auftritt. Man gibt sich die Klinke in die Hand, buchstäblich und dramaturgisch. So wie die Zimmertüren sich dem Gang entlang aneinanderreihen, schön geordnet und zusammenhanglos zugleich, so werden auch die verschiedenen einzelnen Mini-Storys aneinandergereiht, wie die Perlen auf einer Kette.
Es verwundert darum auch nicht, dass das Fernsehen immer wieder Hotels zum Schauplatz ihrer Serien gemacht hat, von „Fawlty Towers“ bis Aaron Spellings „Hotel“ oder dessen schwimmender Variante „Love Boat“. Gerade eben hat sich auch die jüngste Staffel von „American Horror Story“ das Hotel zum Ort und Thema gewählt. So wie die Figuren ein- und auschecken, lassen sich Geschichten aus- und einrollen, ad infinitum. Das serielle Erzählen, so könnte man sagen, legt das Hotel bereits durch seine Architektur nahe. Und so könnten denn auch die Hotelfilme einfach immer weiter gehen. Mit dem Entzug der theologischen Ausrichtung, wie sie Kracauer in der Hotelhalle, kommt den Hotelgeschichten auch die Teleologie abhanden. Die Filme machen einfach weiter. Die Drehtür bewegt sich immerzu im Kreis. Menschen kommen, Menschen gehen. Die nächste Geschichte fängt schon an, hat bereits angefangen.
Johannes Binotto
Reihe „Menschen im Hotel“ bis 31.3. Filmpodium (Nüschelerstr. 11) http://www.filmpodium.ch