Gold Diggers of 1933 (USA 1933)

R: Mervin LeRoy, Busby Berkeley (Choreographien)
K: Sol Polito
mit Ruby Keeler, Dick Powell, Joan Blondell, Ginger Rogers

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„We’re in the money, we’re in the money, let’s lend it, spend it, send it rolling around“ – so singt Ginger Rogers in der allerersten Einstellung von «Gold Diggers of 1933» frontal in die Kamera und hat dabei nichts am Körper, als lauter Münzen. Ironischer kann ein Filmanfang kaum sein. Während sich Amerika noch in der grössten Wirtschaftskrise seiner Geschichte befindet, singt das Showgirl davon, bereits wieder im Geld zu schwimmen. Die Traumfabrik präsentiert seinem verarmten Publikum eine münzengeborene Schönheit. Die grossen Musicals der Dreissiger Jahre – so bestätigt sich hier bereits nach weniger als einer Minute – sind gerade in ihrem Eskapismus ein Produkt der grossen Depression: Das Kino als glamouröser Gegenentwurf zum hoffnungslosen Alltag. Diese Abwehrhaltung ist freilich, was man dem Genre des Musicals so gerne vorwirft und weswegen man es des Zynismus’, oder bestenfalls mangelnder Ernsthaftigkeit bezichtigt. Doch der gängigen Vorwurf hält dem genauen Augenschein nicht stand. Die Musicals setzen ihrem Publikum zwar glitzernde Träume vom sorgenfreien Leben vor, unterminieren diese jedoch zugleich regelmässig. So wird auch in «Gold Diggers of 1933» der eklatante Widerspruch zwischen heiterem Entertainment auf der Bühne und der grossen Tristesse im Publikum nicht einfach überspielt, sondern kurzerhand thematisiert: Die Revuenummer ums grosse Geld, so zeigen uns schon die nächsten Einstellungen dieses Filmanfangs, war nur eine Probe und der zelebrierte Luxus bloss fadenscheinige Maskerade. Noch während die Showgirls auf der Bühne ihre Pappmünzen schwenken, kommen Polizei und Gläubiger zum Bühneneingang herein und stürmen das Theater, um die Schulden des Produzenten einzutreiben. Die harte Realität der Dreissiger stampft auf die Bühne. Darin liegt das Faszinosum dieses Films, wie auch einer ganzen Reihe von anderen Musicals der Zeit, in denen der Choreograph Busby Berkeley die Tanznummern, wenn nicht gar den ganzen Film inszenierte: Diese Filme negieren den grauen Alltag nicht bloss, sondern machen diesen kurzerhand zu einem ihrer Schauwerte. 

Bereits der vor «Gold Diggers» entstandene «42nd Street» führt dieses Talent des Musicals vor, sich noch das Prosaischste anzuverwandeln: In der titelgebende Revuenummer wird bereits das Lüften eines Hutes durch einen Passanten auf der 42. Strasse und die routinierten Gesten eines Kindermädchens, welches ein Baby aus dem Wagen hebt, zur stilisierten Choreographie. Selbst der Lustmord in einem Stundehotel kann sich in Tanz verwandeln, bis am Ende gar die Skyline von New York im Takt der Musik zu wippen beginnt. Und in Berkeleys «Dames» von 1934 nimmt eine der verblüffendsten Tanzsequenzen der Filmgeschichte im gewöhnlichen Stadtverkehr ihren Anfang: wie bei den Surrealisten entstehen auch hier die hochartifiziellen Traumbilder, aus dem, was Freud «Tagesreste» nannte – banale Erlebnisse des alltäglichen Lebens, neu zusammenmontiert. Wenn Dick Powell seine Partnerin Ruby Keeler besingt mit den Worten «I only have eyes für you» erscheint das Gesicht der Geliebten plötzlich auch auf den Plakaten in der U-Bahn. Die Bildgewalt des Musicals speist sich auch aus der der Werbeästhetik. Berkeley praktiziert damit bereits die Verfahren der Pop-Art, bevor es diese überhaupt gab.

Diese verblüffende Integration von Alltagsästhetik in eine Musikszene bereitet mithin vor, womit über ein Jahrzehnt später Musicals wie Vincente Minnellis «Meet Me in St. Louis» oder Charles Vidors «Cover Girl» Furore machen werden. Wenn dort narrative Handlung und Shownummer nahtlos ineinander übergehen, führen diese fort, was Berkeleys Nummern bereits bewiesen haben: im Alltag selbst steckt schon das Zeug, um diesen glamourös zu überhöhen.

So sieht denn auch der verschuldete Produzent aus «Gold Diggers von 1933» die eigene Schuldenmisere nicht als Ende seiner Karriere, sondern vielmehr als Gelegenheit für ein grandioses Comeback. Eine Show will er inszenieren – so verkündet er in der schäbigen Wohnung seiner Tänzerinnen – die von nichts weniger handelt, als jenem Elend, in dem sie sich augenblicklich befinden. Die grosse Depression soll den Stoff abgeben für ein Broadwaymusical. 

Damit folgt auch dieser Film dem klassischen Muster des sogenannten Backstage-Musicals, welches mit «Broadway Melody» 1929 aufkommt und spätestens mit «42nd Street» seine definitive Form findet. Dieses Subgenre dreht sich jeweils um die Bemühungen einer Theatertruppe, eine Show auf die Bühne zu bringen. Dabei liefern die diversen Proben und schliesslich die Premiere des neuen Stücks den Vorwand, auch Gesangs- und Tanznummern zu zeigen, die keinerlei narrativen Bezug zur Rahmenhandlung haben. 

Freilich ist dieser vermeintliche Blick hinter die Kulissen in den Filmen mit Busby Berkeleys Mitwirkung äusserst paradox: Zwar wird hier deklariert, das Entstehen einer Bühnenshow zu zeigen, doch was man dabei zu sehen bekommt, wäre in einem realen Theater niemals möglich. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass es ausgerechnet Berkeley war, dieser Autodidakt ohne jegliche formale Tanzausbildung, welcher so konsequent die Loslösung des Kinomusicals von seinen Bühnen-Vorbildern betrieb. Statt sich in die Vorgaben einer Theatersituation zu fügen, zelebrieren Berkeleys Musicals ganz bewusst eine exzessive Visualität, die einzig und allein im Kino zu erreichen ist. «Was zum Teufel machen sie dort oben? Ein Publikum kann man doch nicht dort hoch nehmen» so soll der damalige Chef der Warner Studios, Darryl F. Zanuck gemeint haben, als er sah, dass sein neuer Choreograph die Kamera statt in Augenhöhe mit den Tänzern im Dachgestühl des Filmstudios aufbauen liess. Gerade darin aber, so hatte Berkeley instinktiv erkannt, lag das unermessliche Potential der Kamera: statt Theater abzufilmen, soll die Kamera gerade jene Ansichten ermöglichen, die ein reales Publikum niemals haben könnte. So leben denn auch Berkeleys Inszenierungen nicht von den tänzerischen Fähigkeiten der einzelnen Darsteller als vielmehr von der Agilität der filmischen Darstellung selbst. Die Kamera, die sich über die Tanzenden aufschwingt oder frivol zwischen die Schenkel der Showgirls schlüpft, sie ist der eigentliche Solist, dessen elegante Bewegungen hier gefeiert werden. Damit liegt der Akzent nicht mehr auf dem Dargestellten, sondern auf der Darstellung, der mise-en-scène. Erst diese von Berkeley vorgenommene Akzentverschiebung hat es ermöglicht, dass das Hollywoodmusical, welches sich Anfang der Dreissiger bereits im Niedergang befand, zu einem erwachsenen und höchst erfolgreichen Genre hatte entwickeln können. 

Exemplarisch für diese Verschiebung steht Berkeleys Entscheidung ausschliesslich mit einer Kamera zu drehen. Wurden in früheren Musicals die Tanzszenen noch parallel aus drei verschiedenen Blickwinkeln gefilmt, um dann am Schneidetisch die verschiedenen Aufnahmen zu kombinieren, ist bei Berkeley der Standort der Kamera niemals zufällig gewählt, sondern definiert erst den Verlauf, das räumliche Arrangement seiner Choreographien. Die Tanznummern werden durch die Kamera nicht einfach dokumentiert, sondern beginnen erst durch diese, durch ihre Blickrichtung und ihre Kadrierung zu existieren. Genau so virtuos und radikal, wie unter seinen Zeitgenossen wohl nur noch Alfred Hitchcock, denkt auch Busby Berkeley ausschliesslich filmisch und wie dieser war auch er stolz darauf, von sich zu behaupten, dass er seine Filme bereits in der Kamera schneide. Was Berkeley inszeniert sind mithin keine Phänomene mehr im realen Raum, sondern Leinwand-Effekte, die keinen anderen Regeln als jener der Filmsprache gehorchen. Das ist umso auffälliger, als die Handlung nahezu aller seiner Musicals der Dreissiger, im Theater- und Varieté-Milieu angesiedelt ist. Auf Ebene der Handlung geben diese Filme vor, Liebeserklärung an die Bühnentradition zu sein, formal hingegen sind sie gerade der Abgesang auf diese alte Form. In «Footlight Parade» versucht ein Broadway-Produzent das serbelnde Bühnengeschäft dadurch anzukurbeln, dass er den lokalen Kinos einzelne Revueszenen anbietet, welche vor der Filmvorführung gegeben werden sollen. Die alte Broadway-Tradition hat ihr letztes Refugium als Lückenfüller im Kino. Als wäre das nicht schon ironisch genug, entpuppen sich indes diese angeblichen Bühnenstückchen als Filmkunst in reinster Form: Nicht nur, dass in der Schlussnummer von «Footlight Parade» eine Militärparade abgehalten wird, die jeden Bühnenrahmen sprengt. Wenn die Offiziere ihre Truppenbefehle in Grossaufnahme die Kamera schreien, spielt Berkeley damit die analogen Einstellungen aus Sergej Eisensteins «Panzerkreuzer Potemkin» an. Und schliesslich endet diese grandiose Sequenz damit, dass einer der Soldaten seinem Mädchen ein, auf die Rückseite eines Spielkartensets gezeichnetes Daumenkino vorführt. Die Magie, welche hier zelebriert wird, ist jene des Kinos, nicht des Theaters. So auch in Berkeleys «Strike Up the Band» von 1940, wenn der junge Mickey Rooney vor einer Früchteschale davon zu schwärmen anfängt, wie es wäre, einmal ein richtiges Orchester zu dirigieren: Unversehens fangen vor unseren Augen Birnen und Pflaumen zu musizieren an. Und in «Gold Diggers of 1933» spielen die Showgirls den «Shadow Waltz» auf mit Neonlampen umrahmten Violinen, die leuchtend durch die Dunkelheit segeln. Wovon Rooney oder die Showgirls fantasieren, kann es nur in der Traumfabrik des Films geben, nicht in realen Orchestergräben. Damit feiern Berkeleys Musicals eben jenen Triumph des Kinos über die Bühne, den sie auf der Handlungsebene aufzuhalten vorgeben. 

Am deutlichsten indes zeigt sich Berkeleys radikale Überwindung der Bühnensituation in jenen verblüffenden Aufnahmen aus der Vogelperspektive die Berkeley zwar nicht als erster, aber doch am virtuosesten in seine Musicals einbaute. Nicht nur, dass damit eine Perspektive gewählt wird, die kein Theaterpublikum hätte einnehmen können, auch die Bewegungen der Tänzer und Tänzerinnen verfremden sich, fügen sich zu kaleidoskopartigen Vexierbildern. Aus den Federboa schwingenden Tänzerinnen von «Fashions of 1934» wird so eine sich öffnende und schliessende Seeanemone. Die Tänzerinnen im Wasserballett aus «Footlight Parade» erscheinen von oben betrachtet als abstrakte Muster. Diese Arabesken aus Menschenkörpern, die bis heute als Markenzeichen Berkeleys gelten, sind faszinierend und zugleich auf eigentümliche Weise beängstigend. Denn beim Zusehen, wie der Einzelne in der Masse aufgeht, geraten Dichotomien auf buchstäblich unheimliche Weise durcheinander: Die Tanztruppen formiert sich zu Gegenständen, Fächern, Girlanden und verleiht so leblosen Gegenständen untotes Leben. 

Berkeley scheint mit solchen Inszenierungen fortzuführen, was King Vidor in seinem Stummfilm «The Crowd» von 1928 als Bedenken formulierte: Dort wird der Auflösung des Individuums im Gewühl der industrialisierten Moderne porträtiert. Vidors Protagonist John Sims, der sich bei seiner Ankunft in New York über die Passanten lustig macht und von sich behauptet, er werde es noch weit bringen, endet nicht an der Amerikas Spitze sondern als Teil der uniformen Masse. Aus dem ambitionierten Individualisten, dem prototypischen Verfechter des american dream wird der Büroangestellte Nr. 137, ein weiteres unbekanntes Gesicht in der Menge der Arbeiter. Ganz anaolog scheinen auch Berkeleys Choreographien als Sinnbilder des Maschinenzeitalters zu fungieren. So wie Siegfried Kracauer 1927 in seinem Essay «Das Ornament der Masse» die synchron bewegten Beine von Revuetänzerinnen mit den Händen von Fabrikarbeitern gleichsetzt, lesen Kritiker auch Berkeleys ornamentale Massenszenen mit Vorliebe vor dem Hintergrund der rationalisierten Arbeitsprozesse in der Grossindustrie: die Technik des Fliessbands, wie es Henry Ford in den frühen Zehner Jahren in seine Autowerken einführt, bestimmt nun auch die Darstellungsweisen der Unterhaltungsindustrie. 

In dieser Vermassung des Einzelnen wird man freilich auch das Merkmal faschistischer Ästhetik erkennen müssen. So hat Susan Sontag auf die Ähnlichkeiten zwischen Berkeleys Choreographien und Leni Riefenstahls nationalsozialistischen Propaganda-Filmen «Triumph des Willens» oder ihren beiden «Olympia»-Filme hingewiesen. Tatsächlich sind stilistische Ähnlichkeiten zwischen Riefenstahls Aufnahmen des Nürnberger NSDAP-Parteitages von 1934 und einzelnen Szenen in Berkeleys Musicals offensichtlich. Gleichwohl greift eine Gleichsetzung von Berkeleys und Reifenstahls Ästhetik zu kurz. Denn während bei Reifenstahl die Auflösung des Individuums im idealen Volkskörper das Ziel darstellt, ist bei Berkeley die Massenszene nur ein Moment des Übergangs. Geht das einzelne Showgirl in der grossen Masse unter, so doch nur, um Augenblicke später wieder daraus aufzutauchen. Gerne vergisst man, dass die unerhörte Neuerung, welche Berkeley ins Genre des Filmmusicals einbrachte und über die er selber sich besonders stolz zeigte, weniger die viel erwähnten Massenchoreographien waren, als vielmehr die sogenannte «parade of faces» – eine Reihe von Grossaufnahmen der einzelnen Gesichter der Tänzerinnen. So erhalten die anonymen Showgirls bei Berkeley erstmals ihren Moment des individuellen Ruhms. Eben noch eine unter Vielen, wird die Statistin für einen Augenblick zum Leinwandstar. Statt faschistischer Ideologie repräsentiert dieses lustvolle Oszillieren zwischen Vereinahmung durch die Gruppe und Heraustreten als Individuum das Demokratieverständnis im Amerika der Dreissiger Jahre unter der Präsidentschaft Franklin D. Roosevelts. Wenn Roosevelts Politik des New Deal vorschlägt, das uramerikanische Ideal der absoluten Autonomie des Einzelnen mit dessen Gegenstück, dem sozialem Gemeinsinn zu kombinieren, so bringt dies Berkeleys in Bild. «Balance», so haben Historiker hingewiesen, war der zentrale und vielleicht meistgebrauchte Begriff der Roosevelt-Administration. Verspricht der New Deal eine Balance zwischen Individualismus und Kollektivismus zu erreichen, so versuchen auch Berkeleys Filme diese schwierige Balance zu halten. Das gilt für deren formale Gestaltung, oft genug aber auch für den Inhalt: Vom kettenrauchenden, konstant überarbeiteten Impressario in «42nd Street» bis zu den ambitionierten Jungtalenten in den Judy Garland & Mickey Rooney-Vehikeln, welche Berkeley ab 1939 für MGM drehte – immer beginnen in Berkeleys Backstage-Musicals die Hauptfiguren als kreative Eigenbrötler und müssen lernen, dass sie ihren Traum nur in Teamarbeit verwirklichen können. Diesen engen Bezug zwischen Berkeleys Choreographien und der Politik New Deal belegt spätestens die Schlussszene von «Footlight Parade», wenn sich die Tänzer zum Konterfei Roosevelts formieren oder zum NRA-Eagle, dem Logo von Roosevelts Büro zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise. Das angeblich so unseriöse Genre des Musicals verkörpert politische Anliegen

Weniger plakativ, aber nicht minder emblematisch ist diesbezüglich auch ein immer wieder auftauchende Motiv in «For Me and My Gal» von 1942: Regelmässig durchforstet der Protagonist, der von Gene Kelly gespielte Vaudeville-Schauspieler Harry die Zeitung nach Theaterrezensionen und nimmt dabei nie die Schlagzeilen über den bevorstehenden Weltkrieg wahr. In einer Einstellung sieht man ihn gar im Zug schlafen, eine Ausgabe der Variety über sein Gesicht gebreitet auf deren Titelseite in dicken Lettern steht: «The War and Show Biz». Der ambitionierte Künstler, dieser Prototyp des eigenwilligen Individuums, verschliesst die Augen vor seiner Verantwortung für die Gemeinschaft. Diese Verantwortung anzuerkennen, darin besteht gerade die Lektion, welche «For Me and My Gal» für seinen Helden und für uns Zuschauer bereithält. 

Am eindrücklichsten und bewegendsten aber zeigt sich Berkeleys Eintreten für die Sache des New Deal in der Schlussszene von «Golddigger of 1933», im (an-)klagenden Lied «Remember My Forgotten Man»: Eine Strassendirne gibt ihre Zigarette einem zerlumpten Stadtstreicher und stellt sich schützend vor einen andern, den ein patrouillierender Polizist fortprügeln will. Die zerlumpte Gestalt, so zeigt ein Blick auf die Medaille unter seinem Revers ist einer jener Veteranen des ersten Weltkriegs, denen das Heldentum kein Glück gebracht hat, einer jener grossen Verlierer der Weltwirtschaftskrise. Wie es dazu kam, zeigt uns Berkeley in einer Serie stilisierter Aufzüge: Soldaten, die eben noch lachend an jubelnden und Luftschlangen werfenden Passanten vorbei in den Krieg marschierten, schreiten mit ernster Miene durch den Regen. Und während sie sich in Berkeleys Choreographie vom rechten zum linken Bildrand bewegen, kommen ihnen aus der Gegenrichtung bereits die Kriegsversehrten entgegen: zerschunden, hinkend, einander stützend, mit bandagierten Köpfen und kaputten Gliedern. Doch auch mit diesem Marsch ist der Leidensweg der vergessenen Männer nicht zu Ende: Der Tross der Heimkehrer geht über in jene endlose Schlange hungriger Arbeitsloser bei der Essensausgabe. Dabei zeigt uns Berkeley diese Männer wiederum zugleich als Masse und als lauter Einzelschicksale, als parade of faces, in der sich nun nicht mehr der individuelle Glamour, sondern das Leiden des je Einzelnen schlaglichtartig zeigt. Erst im Schlusstableau geht die Kamera auf maximale Distanz, um buchstäblich die grossen Zusammenhänge der Weltwirtschaftskrise klarzumachen: während man in einem mehrfachen Torbogen die Silhouetten von Soldaten hin und her marschieren sieht, tritt unter diesem Überbau das Heer der Arbeitslosen hervor, deren Prozession von Frauen flankiert wird, die ihnen vergeblich die Hände entgegen strecken. In dem stilisierten Bild kristallisiert sich die traurige Logik der grossen Depression. Damit gelingt dem Musical, was kein Sozialdrama jener Jahre schafft: die wohl erschütterndste Darstellung der Weltwirtschaftskrise. Kein Zufall, dass Berkeley nach «Remember My Forgotten Man» nicht zurück in die Rahmenhandlung schneidet, zur Bühnensituation, in welche das Lied angeblich eingebettet ist. Das Musical, das angeblich eskapistischste aller Genres ist vollständig in der Realität angekommen und hat zugleich seine Wurzeln im Bühnenspektakel gekappt. Von dort, wo das Filmmusical mit Berkeley hingelangt ist, kann es kein Zurück mehr geben.

Johannes Binotto

Literatur:

Elisabeth Bronfen: «Hitler Goes Pop – Ästhetische Avantgarde, Totalitarismus und die Unterhaltungskultur» In: Dies.: Crossmappings. Essays zur visuellen Kultur. Zürich: Scheidegger & Spiess 2009. S. 141-164.
Raymond Durgnat, Scott Simmon: King Vidor, American. Berkeley: University of California Press 1988.
Stéfani de Loppinot: «Hot Parades» In: Exploding. Revue d’analyse de l’expérimentation cinématographique. 10 (2003). S. 26-35.
Martin Rubin: Showstoppers. Busby Berkeley and the Tradition of Spectacle. New York: Columbia University Press 1993.
Martin Rubin: «The Crowd, the Collective and the Chorus: Busby Berkeley and the New Deal» In: John Belton (Hg.): Movies and Mass Culture. New Brunswick: Rutgers niversity Press 1996. S. 59-92.
Susan Sontag: «Theater und Film» In: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Hamburg: Rowohlt 1968. S. 177-195.
Susan Sontag: «Faszinierender Faschismus» In: Dies.: Im Zeichen des Saturn. München: Hanser 1981. S. 95-124.

aus: Elisabeth Bronfen und Norbert Grob (Hg.): CLASSICAL HOLLYWOOD. Stuttgart: Reclam 2013, S. 121-127.