„Es gibt Bilder, weil es Wände gibt.“
Georges Perec
Wir müssen dort beginnen, wo der Weg versperrt ist. Wir treten ein, wo es nicht weiter geht: bei der Wand.
Am Anfang steht die Wand und damit fängt alles an. Denn eine Wand ist nicht nur architektonisches Element, ist nicht nur Teil eines konkreten Baus, sondern zugleich immer auch eine symbolische Operation, vielleicht sogar die grundsätzlichste Operation überhaupt: Denn wo eine Wand errichtet wird, errichtet man damit unweigerlich auch eine fundamentale Unterscheidung. Die Wand schafft Differenz: Sie scheidet ein Hier vom Dort, ein Davor vom Dahinter, sie trennt zwischen Innen und Aussen. Der Philosoph Vilém Flusser vermutet gar, dass auch der Mensch selbst letztlich nur dank Wänden zum Menschen hat werden können.1 Indem der Mensch zwischen sich und seiner unwirtlichen Umgebung eine Wand errichtet, definiert er sich selbst und kommt zu sich. Denkt man darüber nach, dann lässt sich schliesslich auch das Begriffspaar Subjekt und Objekt verstehen als Effekt einer solchen Trennung: Das Subjekt auf der einen Seite und das Objekt ihm entgegengeworfen – das lateinische „objacere“, von dem das Wort abstammt, bedeutet bekanntlich genau dies – auch dieses dialektische Paar ist nichts anderes als die zwei Seiten ein und derselben Wand. Wir denken durch Wände, im doppelten Sinne: mit ihrer Hilfe und durch sie hindurch.
Die Ambivalenz der Wände
Die Wand selbst aber, die zwischen all diesen Gegensätzen steht, wird damit zu einem ambivalenten Phänomen, hat sich doch immer Teil an beiden Seiten zugleich. Die Wand gehört zum Innen ebenso, wie zum Aussen. Die Aussenwand ist immer auch Innenwand, je nachdem, von wo wir sie betrachten. Und so berührt sich unweigerlich in der Wand gerade das, was sie doch eigentlich auseinanderhalten soll. Das ist ihre Paradoxie: Die Wand trennt zwar, verbindet zugleich aber auch, was uns spätestens dann bewusst wird, wenn wir Löcher in die Wände schlagen, wenn wir Fenster- oder Türöffnung anbringen. Denn auch Türen lassen sich nur dort bauen, wo es Wände hat. Wo hingegen die Mauer fehlt, kann es auch keine Fenster geben. Die Wand wird so überraschenderweise auch zum Ort einer Vermittlung: Die Wand entpuppt sich als Medium.
Als Medium nutzen die Wand freilich bereits die allerersten Menschen, welche schon 31000 Jahre vor Christus auf die Wände ihrer Höhlen zu zeichnen beginnen. Dabei zeigt sich schon in diesen frühesten Artefakten die Widersprüchlichkeit der Wand als Medium, als Phänomen zugleich der Abgrenzung und Vermittlung: denn auf den prähistorischen Wandmalereien, wie etwa diejenigen in den Höhlen von Lascaux, sind ausgerechnet jene wilden Tiere zu sehen, vor denen man ja in der Höhle Zuflucht sucht. Die Bilder von Lascaux zeugen somit von einem paradoxen Prinzip: Genau das, was durch Wände ausgesperrt werden soll, kehrt auf diesen Wänden zurück als Zeichnung. So sind die Wände seit den prähistorischen Wandmalereien Ort der Auseinandersetzung geblieben, Schauplätze, wo das durch Wände getrennte Eigene und das Fremde unweigerlich wieder aufeinandertreffen.
Augentäuschungen
Das alles gilt in ganz besonderem Masse auch für die Wandmalereien, die sich auf den folgenden Seiten finden. Auch sie vollführen im Visuellen ein Denken durch Wände – mit ihnen und durch sie hindurch. Wenn der Wand eine grundlegende Widersprüchlichkeit eignet, da sie nicht Bereiche trennt, sondern zugleich auch zwischen diesen vermittelt, so finden wir diese ambivalente Spannung in den hier präsentierten Wandbildern bis zum äussersten Extrem getrieben. Denn die Wände, auf welche diese Künstler ihre Malereien angebracht haben, sind keine gewöhnlichen Wände, sondern die dicksten und solidesten, die undurchdringlichsten, die unsere Gesellschaft überhaupt kennt: die Wände eines Gefängnisses. Ausgerechnet jene Wände, aus denen es kein Entrinnen geben soll und die radikal jeden Kontakt mit der Aussenwelt verhindern, werden hier zu einem Schau-Platz gemacht, zum Ort unerwarteter Aussichten, wo es Neues zu sehen gibt. Die Wandmalereien auf den 4661m2 des Gefängnisses Lenzburg eröffnen Perspektiven, im übertragenen genau so wie im konkreten Sinn. Neue Perspektiven ergeben sich beispielsweise mittels optischer Täuschungen, welche die Gesetze der Geometrie ausser Kraft setzen, etwa indem der vertikal aufragende Beton so bemalt wird, als wäre er eine Ebene über welche Menschen und Tiere spazieren, so wie die freudig ihre Arme ausbreitende Frau oder die weidenden Kühe auf den Bildern David Zeltners. Oder aber der undurchdringliche Stein wird zum Weltall, durch den ein Astronaut schwebt, wie bei den Künstlern von Nevercrew. In den Bildern von Lain schliesslich sieht es gar so aus, als würde die Betonwand aufgerissen, als rage eine riesige Hand durch ein Loch der Aussenmauer und Malik bemalt den Beton so, als könnte er angehoben und gelüftet werden, als wär‘s bloss ein Vorhang. Bildnerische Verfahren wie diese, welche mit der Wirkung von optischen Täuschungen spielen, haben eine lange, in der Antike ansetzende Tradition, die schliesslich in der manieristischen Trompe-l‘oeil-Malerei des 17. Jahrhunderts ihren Höhepunkt finden wird. In Bildern etwa eines Jan van Kessel scheinen Insekten nicht nur gemalt zu sein, sondern auf der Oberfläche des Gemäldes selbst herumzukrabbeln und Maler wie Samuel van Hoogstraten präsentieren auf ihren sogenannten Quodlibet-Bildern eine Ansammlung von Gegenstände so, als wären sie nicht im Bild drin, sondern nur an der Leinwand angehängt und könnten einfach in die Hand genommen werden. In späteren Werken wie etwa Pere Borrell del Casos berühmtem Gemälde „Flucht vor der Kritik“ sieht es gar so aus, als würde die dargestellte Figur aus dem Bilderrahmen selbst hinausklettern und sich verwundert im Ausstellungsraum umsehen.
Freie Sicht im Sichtbeton
Geht es beim Illusionismus des Trompe-l‘oeil also immer darum, die plane Fläche des Bildes zu überschreiten und Dinge zu zeigen, die aus dem Bildraum hinaus zum Betrachter ragen, kriegen diese Verfahren im Kontext eines Gefängnisses eine umso grössere Brisanz. Gerade weil hier die Wand per Definition unüberwindlich sein muss, erscheinen die darauf aufgemalten illusionistischen Augentäuschungen umso provokanter. Eben dort, wo der Kopf nur allzu gut weiss, dass es nicht weiter geht, sieht das Auge nun plötzlich eine Öffnung. So wird die hermetische Betonwand in der Arbeit des Künstlers Onur zum Ausblick auf die zerklüfteten Alpen und in der gemeinsamen Arbeit von Malik und Note werden gar alle vier Wände eines Spazierhofes zum atemberaubenden Panorama, in welchem der Blick über die Dächer einer Stadt und über weite Felder und Wiesen schweifen kann. Die Paradoxie, welche in solchen Arbeiten steckt – freie Sicht, wo doch eigentlich nur Sichtbeton ist – nimmt jedoch nur eine paradoxe Situation auf, die ohnehin schon im Gefängnis herrscht und die sich bereits in einem Wort wie „Spazierhof“ zeigt. Denn tatsächlich, so beweist es die Fotografie eines dieser noch unbemalten Spazierhöfe, mutet diese Bezeichnung fast schon zynisch an. Hier, wo die Gefangenen frische Luft schnappen sollen, zeigt sich das erdrückende Gefühl des Eingeschlossenseins noch viel extremer, als in den Zellen. Und dass der Gefangene in diesen Höfen die jenseits der Mauern liegende Umgebung womöglich riechen und hören kann, schärft nur seinen Sinn dafür, dass er diese Umgebung nie zu betreten vermag. Hinter der Wand hört man vielleicht das Bimmeln von Kuhglocken und riecht den Geruch von umgepflügter Erde und ist zugleich doch von dieser Realität vollkommen abgeschnitten hinter leblosem, grauem Beton. Das Ausserhalb ist so nah und doch so unendlich fern. Ob die Wandmalereien diesen schmerzhaften Widerspruch verwinden helfen, diese wahnsinnig machende Paradoxie, inmitten der Welt und zugleich doch von ihr abgeschnitten zu sein? Oder verstärken sie vielleicht nicht gar noch das Bewusstsein dafür? Auch dies ist eines Risiken dieses ohnehin riskanten Kunstprojekts. Entsprechend verschränkt das 360°-Panorama von Malik und Note mithilfe der visuellen auch emotionale Widersprüche: Nicht nur geht hier Stadt in Land und Tag in Nacht über. Zugleich verkehrt sich hier maximale Isolation optisch zu atemberaubender Offenheit, wenn der Innenplatz, auf dem man steht, aufgrund der Wandbilder nun unversehens wie ein schwindelerregendes Plateau erscheint, an dessen Rändern man mangels Geländer in die Tiefe zu fallen droht. Die Klaustrophobie des Gefängnisses kann da möglicherweise gar in Agoraphobie umschlagen, in das nicht minder verstörende Gefühl, dieser sich vor uns ausbreitenden Aussenwelt hilflos ausgeliefert zu sein. So ist es durchaus verständlich, wenn auch die Reaktionen der Insassen auf diese Wandbilder ganz unterschiedlich ausfallen und Begeisterung ebenso, wie Ablehnung hervorrufen können. Die Arbeit lebt genau von dieser Unwägbarkeit. Bei aller Vorsicht, welche die Künstler zeigen in der Wahl ihrer Sujets und ihrem Bewusstsein für die grosse Verantwortung, Bilder zu kreieren, welche die Gefangenen über Jahre, mitunter bis zum Rest ihres Lebens werden betrachten müssen, dienen ihre Wandmalereien doch nie nur der Beruhigung. Die Bilder auf diesen 4661m2 sind kein optisches Sedativ, welches den Betrachter mit wohligen Farben ruhigstellen soll, sondern sind auch Herausforderungen an die Wahrnehmung. Ob es sich bei den Bildern möglicherweise um eine Studie, um ein Experiment handeln könnte, fragt sich einer der befragten Insassen und natürlich hat er Recht. Die Bilder sind Experimente, welche Reaktionen hervorrufen und zu denken geben sollen.
Topologien
Ich und Nicht-ich, Innen und Aussen, Gefangenschaft und Freiheit – das Denken in dialektischen Gegensatzpaaren wie diesen, wozu das Gefängnis seine Insassen ohnehin zwingt, werden von diesen Bildern nicht etwa abgemildert, sondern im Gegenteil auf vielfältige Weise weitergesponnen. Auch eine so behutsame Arbeit wie jene der Künstlerin Mizzo wühlt auf subtile Weise auf, indem sie die Raumverhältnisse im Gefängnisse auf fast unmerkliche Art in Frage stellt: Die stilisierten Arme und Hände, die von oben und unten, von rechts und links in die Bildfläche hineingreifen, stellen die gewohnten Gesetze der euklidischen Geometrie in Frage: Als Raum, in den man von allen Seiten zugleich Zugriff hat wird der Spazierhof zu einem topologischen Gebilde, ähnlich dem Möbiusband, jener Bastelfigur, die man erhält, wenn man einen Papierstreifen so zusammengeklebt, das dessen Vorder- und Hinterseite ineinander übergehen und somit ununterscheidbar werden. So wie auf dem Möbiusband eine eindeutige Positionierung nicht mehr möglich ist, weil hier Vorder- immer auch Rückseite ist, so scheint auch die Orientierung auf Mizzos Bildern widersprüchlich. Und doch sind diese Widersprüche eigentlich nur solche, die ohnehin schon dem Leben in Gefangenschaft eignen: Auf einem der Fotografien sieht man, das in dem betreffenden Hof auch ein Hometrainer steht, ein scheinbar banales Sportgerät, das aber selbst schon eine bemerkenswerte Paradoxie verkörpert: Man fährt Rad, ohne sich vom Fleck zu rühren. Egal, wie heftig man strampelt, man kommt nirgends an. Der Hometrainer entpuppt sich damit geradezu als Metapher für den Gefangenen-Spazierhof selbst, in dem man zwar herumgehen, aber nirgendwo hingelangen kann. Die Bilder an der Wand nehmen dieses Dilemma auf und geben ihm zugleich eine neue Wendung. Denn die merkwürdige räumliche Desorientierung, die sich in den Bildern ereignet, ist nicht nur Abbild einer perfiden Ausweglosigkeit, sondern hat zugleich auch etwas zutiefst Befreiendes. Als komplexer Bildraum, der bei jeder Betrachtung wieder neu zusammengesetzt werden muss, steht er auch für die Möglichkeit, dass selbst so rigide räumliche Strukturen, wie sie im Gefängnis herrschen, aufgebrochen werden können. Es sei ihr wichtig gewesen, so die betont die Künstlerin, nicht allzu konkrete Bilder zu schaffen, sondern solche, die abstrakt genug sind, auch dem endlos oft wiederholten Betrachten standhalten sollen. Und in der Tat können die gemalten Topologien auf der Wand, wie in einem Kippbild, mal als Sinnbild für Gefangenschaft und dann gerade umgekehrt als Fluchtbilder gesehen werden. Als in sich widersprüchliche Bilder, sind sie nie eindeutig. Sie bleiben offen.
Ähnlich laden auch Benjamin Solts Wandbilder in den Gängen, welche mit typographischen Formen spielen, dazu ein, immer wieder neu entziffert zu werden. Die angedeutete Schrift an der Wand ist eine mysteriöse Botschaft, die sich nie restlos deuten lässt, Menetekel und Verheissung gleichermassen. Und so sind auch die Geschichten derer, die sich zwischen diesen Bildern bewegen noch nicht zu Ende geschrieben, aller Fatalität und Ausweglosigkeit zum trotz. Wie die Schrift an der Wand muss auch die eigene Geschichte immer wieder neu gelesen, neu entziffert werden. Die Erzählung ist noch nicht zu Ende. Was ausweglos scheint, kann immer noch voller Möglichkeiten sein. Voller Möglichkeiten hat auch Malik, der Initiant dieses Kunstprojekts, die grauen Betonwände des Gefängnisse gesehen: als Potential, als Möglichkeit, Bilder zu machen, so gross, wie nie zuvor. „Man spricht von kahlen Wänden, als handle es sich bei der Kahlheit um einen Mangel. Und tatsächlich ist die kahle Kälte ein Wesenszug der Wände. Und doch ist es gerade ihre Kahlheit und Kälte, ihre ästhetische Neutralität, welche sie befähigt, Träger eines beträchtlichen Teil der menschlichen bildenden Phantasie zu werden“ so schreibt Vilém Flusser.2 Nur wo Wände sind, lassen sich Bilder malen, um gerade dadurch diese Wände wieder in Frage zu stellen.
Heterotopien
Indes fordern diese bemalten Wände nicht nur die Wahrnehmung und mithin das Denken jener heraus, die in ihnen leben und arbeiten. Die 4661m2 von Lenzburg sind auch eine Herausforderung an uns, die wir uns ausserhalb der Gefängniswand befinden. Diese Bilder gehen auch und gerade uns Aussenstehende an, was umso verblüffender ist, als wir diese Bilder ja eigentlich gar nicht sehen können. Das macht die Fotografien auf diesen Seiten nur noch aussergewöhnlicher und das ganze Buch eigentlich zu einem mysteriösen Objekt: Dieses Buch ist wie eine Flaschenpost, die von einer geheimen Insel zu uns geschwemmt wurde, einer Insel, um deren Existenz wir zwar wissen und die doch die allermeisten von uns nie betreten werden. In Zeiten, da es auf den Landkarten dieser Erde schon längst keine weissen Flecken mehr gibt und mit der richtigen Ausrüstung jeder noch so entlegene Ort erreicht werden kann, bleiben einzig geschlossene Anstalten wie das Gefängnis noch unerforschte Inseln. Für den Historiker Michel Foucault ist das Gefängnis denn auch ein prominenter Vertreter jener Orte, die er „Heterotopien“ nennt. Damit bezeichnet Foucault „Gegenorte (…), tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen (…) all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die ausserhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen.“3 Die Heterotopie des Gefängnisses fungiert somit zugleich als Alternative und Symptom einer Gesellschaft: an ihnen versammelt sich, was in der Gesellschaft keinen Platz hat und von dieser ausgesondert wird, zugleich aber doch diese Gesellschaft mitbestimmt und definiert. Denn was korrektes Verhalten ist, zeigt sich zu einem guten Teil erst durch dessen Abgrenzung von der Delinquenz. Die scharfe Abtrennung der Verbrecher hilft auch dem Rest der Gesellschaft, um sich so selber zu definieren. Wieder begegnen wir hier der Doppelfunktion der Wand, die nicht nur einen Innen- sondern im selben Zug auch einen Aussenbereich umgrenzt. Die Mauer des Gefängnisses, so könnten wir darum sagen, schliesst nicht nur die Delinquenten ein, sondern gibt auf ihrer anderen Seite auch der Gesellschaft erst ihre Kontur. Genau solche Ein- und Ausschliessungsmechanismen als Praktiken, die eine Gesellschaft anwendet, um sich ihrer eigenen Gestalt klar zu werden, haben Michel Foucault in seiner intensiven Beschäftigung mit dem Gefängnis interessiert. Dabei betont er in seiner epochalen Studie „Überwachen und Strafen“ auch wie im Gefängnis Sichtbarkeit als Instrument der Disziplinierung benutzt wird. So sind beispielsweise in der Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelten Gefängnisarchitektur des sogenannten Panopticons die Zellen konzentrisch um einen zentralen Überwachungsturm angeordnet und damit jederzeit für die Wärter einsehbar zu sein, während umgekehrt die Gefangenen nie sicher sein können, ob, wann und von wem sie beobachtet werden. Die Disziplinierung wird damit zu einer Angelegenheit räumlicher Anordnung von Sichtbarkeit. In den Worten Foucaults: „Diese Anlage des Panopticons ist deswegen so bedeutend, weil sie die Macht automatisiert und entindividualisiert. Das Prinzip der Macht liegt weniger in einer Person als vielmehr in einer konzentrierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken; in einer Apparatur, deren innere Mechanismen das Verhältnis herstellen, in welchem die Individuen gefangen sind.“4
Öffnungen im künstlichen Raum
Tatsächlich weist das ältere Gebäude der Justizvollzugsanstalt Lenzburg, der sogenannte Fünfsternbau denn auch prompt eine solch panoptische Architektur auf: mit fünf Gebäuden, die sternförmig um den Aussichtsturm im Zentrum arrangiert sind, erweist sich die Gefängnisarchitektur auch hier als eine „optische Apparatur“ wie sie Foucault beschrieben hat. Der Neubau hingegen verfügt nicht über eine solche Architektur, das panoptische Prinzip der Sichtbarkeit hat sich indes auch hier durchgesetzt, in perfektionierter Form: Statt Wachtürmen sind es heute die unzähligen Überwachungskameras, wie man sie auch im Gefängnis von Lenzburg findet, über welche die Autorität des Blicks ausgeübt wird. Die Wandmalereien im Gefängnis Lenzburg indes nehmen dieses Regime des Blickes auf und geben ihm zugleich eine andere Wendung, ganz konkret etwa wenn die Pupille des Vogels auf Lains Bildern frappant den in den Wänden eingelassenen Überwachungskameras ähnelt.
Tatsächlich aber subvertieren alle diese Bilder die Herrschaft des autoritären Wärterblicks, indem sie nämlich auch die Gefangenen zu aktiv Schauenden machen. Vielleicht steckt unbewusst auch das in den Worten jenes Gefangenen, der auf die Frage, welches Bild man wieder übermalen sollte, meint: „Jedes Bild ist besser als kein Bild.“ Anstatt die Insassen heimlich zu beobachten, geben die Bilder an den Wänden sich selbst zu sehen, geben sich preis für die jeweilige Betrachtung und damit auch die jeweilige Deutung durch jeden Einzelnen. Statt den Blick zu bündeln, zu zentralisieren und so zu kontrollieren wie es für die von Foucault untersuchten Disziplinierungsmechanismen typisch ist, erlauben die 4661m2 von Lenzburg, dass der Blick auf Abwege gerät, sich verliert, hängen bleibt oder auf eigenwillige Weise herumspringt. Im Hochsicherheitsgefängnis, in deren Überwachungsräumen es keine toten Winkel geben darf, bieten diese Bilder Schlupflöcher, in denen sich der Blick und mithin auch die Gedanken der Betrachter der Kontrolle entziehen können und auf Wanderschaft gehen, so wie in Onurs Gebirge oder in Maliks Dschungel. Die Wandbilder etablieren damit jene „neuen Spielregeln“, von welcher Jean Baudrillard im Zusammenhang mit autoritären Architekturen spricht und die es braucht, um sich den Vorgaben eines Baus zu widersetzen. „Es muss auch im Imaginären, wie im Raum eine unvermeidliche Krümmung geben, die sich jeglicher Planung, jeglicher Linearität, jeglicher Programmierung widersetzt.“5
Die Wandbilder widersetzen sich. Sie widersetzen sich nicht zuletzt auch den Klassifizierungen, die wir sonst so gerne auf Kunst anwenden, um sie damit zum Gängigen und Gewohnten zurechtzustutzen. So zielt etwa eine Bezeichnung, wie die intensiv diskutierte Streetart letztlich an diesen Bildern vorbei, ist es hier doch gerade nicht der öffentliche Raum der Strasse, welcher künstlerisch besetzt wird, sondern vielmehr dessen radikales Gegenteil: ein Raum der Abschliessung und Absonderung. So kann man auch die Bilder auf diesen Wänden nur in Verkehrungen benennen, nicht als Kunst im öffentlichen Raum, sondern gerade umgekehrt als Öffnungen im künstlichen Raum.
Wir, die Gefangenen
Umso bemerkenswerter aber ist es, dass diese Bilder, in denen der Blick der Gefangenen ins Offene entlaufen kann, uns Aussenstehenden wohl auf immer verschlossen bleiben und nur als blosse Abbilder, als Fotografien in diesen Buch einsehbar sind. Vielleicht ist das überhaupt die verblüffendste Leistung der 4661m2 von Lenzburg: dass diese Projekt die übliche Unterscheidung von Freien und Gefangenen durch den Blick auf diese Bilder, quasi für einen Augen-Blick lang radikal umkehrt. Wir, die wir uns nicht im Gefängnis befinden, haben nicht die Freiheit, diese Bilder zu sehen, wir können nur vermittelt von ihnen Kenntnis nehmen, über die Fotografien und Berichte in diesem Buch. Die Wandbilder selbst aber, bleiben ein Privileg der Insassen. So sind auf einmal wir die Gefangenen, denen der Zutritt verwehrt bleibt.
Und doch funktionieren diese künstlerischen Öffnungen im geschlossenen Raum in beide Richtungen: nicht nur, dass die Bilder den Insassen neue Sehweisen eröffnen, umgekehrt öffnen uns diese Bilder auch die Sinne für die Heterotopie des Gefängnisses. Das Gefängnis als verleugneten Ort, den wir mit Vorliebe aus unserer alltäglichen Wahrnehmung auszublenden, ja gleichsam zu verdrängen versuchen, dieser Ort macht sich uns über diese Bilder wieder bewusst. Und paradoxerweise gehen uns diese Bilder nur noch mehr nahe, als es solche sind, die wir im Original nicht betrachten können. Im Wissen darum, dass der abgeschlossene Raum des Gefängnisses Ansichten enthält, die uns verweigert sind, gerät die sonst so sauber vollzogene Unterscheidung zwischen Gefangenschaft und Freiheit ins Wanken. So wie in dem Witz des Mathematikers, der die Aufgabe, eine Herde Schafe einzuzäunen so löst, dass er die Tiere nicht zusammentreibt, sondern vielmehr um sich selber eine kleines Gatter errichtet und spricht: „Ich definiere: Wo ich stehe, ist Aussen“ so ähnlich werden die Gefangenen von Lenzburg im Anblick dieser Bilder zu denen, die mehr und freier sehen können, als wir, die draussen stehen. Der Blick der Gefangenen sieht weiter als unserer – wenn wir uns das vorstellen können, dann hat der solide Beton zwischen ihnen und uns bereits Risse bekommen. Die Mauern beginnen zu fallen. Die Bilder haben uns durch die Wand gebracht.
1 Vilém Flusser: „Wände“ in: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München: Hanser 1993, S. 32.
2 Flusser: „Wände“ a.a. O., S. 29.
3 Michel Foucault: „Von anderen Räumen“ in: Schriften. Bd. 4. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. S. 931-942, hier: S. 935.
4 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 259.
5 Jean Baudrillard: Architektur: Wahrheit oder Radikalität, Graz-Wien: Droschl 1999, S. 18.