in: Marcus Stiglegger, Michael Flintrop (Hg.): Dario Argento: Anatomie der Angst. Berlin 2013, S. 68-83. ///
/// Die Grenze schafft Ordnung. Man zieht eine Linie durch den Raum und spaltet ihn damit in zwei Zonen, trennt das Hier vom Dort. Erst so, in ihrer Trennung und Gegenüberstellung, lassen sich Positionen definieren. Unser gesamtes Denken scheint von solchen Grenzziehungen abzuhängen: die ganze Dialektik von Innen und Außen, von Präsenz und Absenz ist ein Produkt der Grenze. Und auch wir selber konstituieren uns erst durch solche Trennlinien, ist doch die Unterscheidung zwischen hier und dort auch jene zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Betrachter und Betrachtetem. Was aber geschieht, wenn die Grenze brüchig wird, sich auflöst? Was passiert, wenn der unterteilte und verstehbare Raum implodiert, wenn hier und dort, innen und außen ineinander fließen?
Extimité
„Interiora occultum“ – so steht es in rätselhaften Lettern geschrieben an der Wand jenes dunklen Geheimgangs, den die Studentin Suzy Banyon aus Dario Argento’s suspiria im tiefsten Inneren ihrer Ballettschule entdeckt hat. Darüber aber prangt warnend noch ein anderes Wort: „Metamorphosis“. Tatsächlich sind die Räume von suspiria in andauernder Metamorphose begriffen. Das Innere verwandelt sich, stülpt sich unvermittelt um ins Außen und wer sich tief drin in diesen Architekturen zu verkriechen sucht, der wird sich gerade dadurch preisgeben.
Das musste schon jene junge Frau erkennen, die sich zu Anfang des Films auf ihrer Flucht vor einem namenlosen Grauen im Zimmer ihrer Freundin verbarrikadiert. Gerade hier aber, in der scheinbaren Sicherheit der vier Wände, ist sie ihrem Verfolger schutzloser ausgeliefert als je zuvor. Die Fenster des Zimmers sind allesamt blind ob der Dunkelheit die draußen herrscht. In ihnen sieht man nichts, außer das eigene Spiegelbild. Wenn die Verängstigte schließlich nahe an die Scheibe herangeht, um angestrengt nach draußen zu spähen, erblickt sie im Schein ihrer gegen die Scheibe gehaltenen Lampe nur das eine: ein rasch auftauchendes und wieder verschwindendes Augenpaar wie von einem Tier, dass von da draußen zu ihr hineinstarrt. Die Beobachterin erkennt sich plötzlich als Beobachtete, das Subjekt wird zum Objekt unter dem grausamen Blick eines namenlosen Monstrums. Aus-Sicht verkehrt sich schockartig in Ein-Sicht. Und damit fängt der Schrecken erst an.
Die Szene ähnelt frappant jenem Angstraum, den einst Sigmund Freuds Patient Sergei Pankejeff in der Analyse erzählte und der ihm jenen Übernamen einbringen sollte, unter dem er in die Medizingeschichte einging: der Traum vom Wolfsmann. „Ich habe geträumt, dass es Nacht ist und ich in meinem Bett liege […]. Plötzlich geht das Fenster von selbst auf, und ich sehe mit großem Schrecken, dass auf dem großen Nussbaum vor dem Fenster ein paar weiße Wölfe sitzen.” so erzählt der Patient.
Es ist ein Anblick, den Pankejeff zeit seines Lebens nicht mehr loslassen und den er immer wieder in selbst gezeichneten und gemalten Bildern festhalten wird. Was diesen Traum freilich so beängstigend macht, ist die Deutung, die Freud ihm gibt. So hält der Psychoanalytiker nämlich fest, dass sich in der Aussicht, welche sich dem Wolfsmann bietet, nicht nur der Raum jenseits des Fensters, sondern auch der Betrachter selbst, sein eigener Blick zeige: “Das aufmerksame Schauen, das im Traum den Wölfen zugeschrieben wird, ist vielmehr auf ihn [den Wolfsmann, JB] zu schieben. (…) Vertauschung von Subjekt und Objekt, Aktivität und Passivität, angeschaut werden anstatt anschauen”
Was den Angstraum des Wolfsmannes so unheimlich macht, ist mithin weniger die Bedrohung durch die Wölfe als vielmehr die irritierende räumliche Situation, von welcher er Zeugnis ablegt. Es ist, als befinde sich der Träumer an zwei Orten zugleich, sowohl hinter, wie vor dem Fenster und als seien Außen- und Innenbereich über das plötzlich sich öffnende Fenster zu einem einzigen, in sich verschlungenen Raum kurzgeschlossen worden. Unheimlich ist nicht, was draußen lauert. Unheimlich ist der Raum selbst, in dem sich Positionen unversehens vertauschen und wo „außen vor“ zugleich auch „innen drin“ sein kann. „Extimité“ hat der Psychoanalytiker Jacques Lacan dieses Unheimlichen genannt – eine Neologismus, der aus den Wörtern „intimité “ und „exterieur“ gebildet ist: Das Intimste ist draußen, das externe war immer auch schon das Innere.
So wie das Fenster des Wolfsmannes plötzlich aufgeht und der Außenraum sich mit dem Inneren vermischt, umso brutaler bricht in suspiria das, was vor dem Fenster wartet ins Zimmer ein: Der haarige Arm eines Wesens durchstößt von draußen die Scheibe, um dann das Gesicht der Frau von innen gegen die Scheibe zu pressen, bis sie endgültig birst. In diesem grausigen Moment werden räumlich entgegengesetzte Bewegungen zu einem Kontinuum verschmolzen: Die Hand, die von außen hinein kommt, drängt sogleich von innen wieder heraus. Es ist eine gewaltsame Zirkelbewegung, eine blutige Extimität, wo das Externe ins Intime bricht, um sogleich das Innere nach draußen zu stoßen.
Der Filmapparat befördert diese räumliche Desorientierung noch zusätzlich. Nicht nur dass die Kamera abrupt zwischen Außen- und Innensicht und zwischen der Perspektive des Opfers und jener des Angreifers wechselt, auch die Tongestaltung tut das ihre, diese paradoxe Räumlichkeit zu schaffen: Wenn zu Beginn der Szene die Kamera von draußen durchs geschlossen Fenster ins Zimmer blickt, hören wir gleichwohl die Frau mit ihrer Freundin ganz klar und deutlich sprechen. Das Objektiv der Kamera ist zwar draußen vor dem Fenster, das Mikrofon aber ist im Zimmer drinnen. Bild und Ton, die beiden basalen Bestandteile des audio-visuellen Mediums besetzen komplementäre Orte. Der filmische Apparat als Ganzes aber wird so zu einem, der an zwei Orten zugleich sein kann, innen und außen im selben Moment…