Descartes dient das Bild des vielfach ausgebesserten Hauses oder der unregelmässigen Stadt dazu, die Widersprüchlichkeit früherer philosophischer Systeme zu veranschaulichen. Zugleich aber liefert damit die Architektur auch das Vorbild für sein eigenes ambitioniertes Unterfangen, ein neues Denken zu etablieren. Der Philosoph sieht sich im Folgenden denn auch als jener erwähnte Ingenieur, der die Häuser und Viertel niederreissen lässt, um am alten Ort eine neue, geordnetere, gleichsam „vernünftigere“ Stadt aufzubauen. Das Cartesianische Denkregime, diese Politik des Rationalismus ist von einem bestimmten Bild der Polis nicht zu lösen.
Bemerkenswerterweise gibt es für Descartes nicht den Hauch eines Zweifels, dass eine Stadtarchitektur, die nur von einem einzigen Baumeister geplant, gebaut und kontrolliert wird, in jedem Fall besser sei, als eine natürlich gewachsene Stadt, voller Widersprüche. So problematisch uns diese Ansicht heute scheinen mag, sie fand ihre exakte Entsprechung in den Städtebauvisionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. So schreibt der Bauhaus-Architekt Ludwig Hilberseimer 1924 in seinem Artikel «Grossstadtarchitektur» gleichsam Descartes fort und fordert, der Architekt habe alles Widersprüchliche auszumerzen:
„Reduktion der architektonischen Form auf das Knappste, Notwendigste, Allgemeinste. Eine Beschränkung auf die geometrisch kubischen Formen: die Grundelemente aller Architektur […] Der allgemeine Fall, das Gesetz wird verehrt und herausgehoben: die Ausnahme wird umgekehrt beiseite gestellt, die Nuance weggewischt, das Mass wird Herr, das Chaos gezwungen, Form zu werden: logisch, unzweideutig, Mathematik, Gesetz.“
Was bei Descartes noch Hirngespinst und blosse Metaphorik ist, wird von Hilberseimer wörtlich genommen und zum Plan einer idealen Stadt gemacht.
Noch konkreter und schockierender tut dies zur selben Zeit Le Corbusier mit seinem cartesianischen Plan „Voisin“ für Paris aus seinem Städtebau-Buch „Urbanisme“ von 1925. Dabei erweist sich Le Corbusiers Buch schon mit den ersten Zeilen auch als politische Kampfschrift gegen die herrschenden Verhältnisse. […]