Sehen als Handlung. Zum Handwerk von Theorie und Film

in: Nummer 7 (Juni 2017): Handwerker, Visionäre, Weltgestalter?, S. 38-42 ///

 

„Emanzipation beginnt dann, wenn man den Gegensatz zwischen Sehen und Handeln in Frage stellt […] Sie beginnt, wenn man versteht, dass Sehen auch ein Handeln ist.“ Jacques Rancière[1]

Von „Handwerkern und Visionären“ war im Titel der Ringvorlesung zum 140-Jahr-Jubiläum der Kunst- und Design-Ausbildung in Luzern zu lesen. Dabei betont freilich das Bindewort „und“ nur noch die angebliche Differenz zwischen den beiden Figuren. Wo eigens ein „und“ eingefügt werden muss, ist der Zusammenhang offenbar nicht selbsterklärend, sondern muss erst noch beglaubigt werden. Und in der Tat: wer wollte bezweifeln, dass Handwerker und Visionär zwei ganz unterschiedliche Haltungen seien. Doch so offensichtlich diese Einsicht auch scheint, möchte ich im Gegenteil gerade dafür plädieren, dass zwischen Handwerk und Vision nicht bloß eine Partnerschaft besteht, als vielmehr eine zwingende Identität. Der Handwerker ist ein Visionär. Und der Visionär ein Handwerker. Zwangsläufig.

So jedenfalls macht es uns Jean-Luc Godard klar, wenn er im zweitletzten Kapitel seines epochalen Videoessays Histoire(s) du cinema von der Bedeutung der Hand als Instanz eines entgrenzende Denkens spricht:

„Es ist höchste Zeit, dass das Denken wieder das wird, was es in Wirklichkeit ist: für den Denkenden gefährlich, und die Realität verändernd. ‚Dort wo ich schöpferisch bin, bin ich wahr‘ schreib Rilke. Die einen denken, sagt man, die anderen handeln. Aber die wahre Bestimmung des Menschen ist es, mit seinen Händen zu denken.“[2]

Godard zitiert hier aus Denis de Rougements Buch „Penser avec les mains“[3] – ein Text, der im späten Werk Godards und insbesondere in den Histoire(s) du cinéma eine zentrale Stellung einnimmt und dort „geradezu programmatischen Charakter“ hat.[4] Tatsächlich waren Godards Videoarbeiten, die ihren Höhepunkt in den Histoire(s) du cinéma fanden, nicht zuletzt Experimente mit neuen, noch ungewohnten Handwerkszeug der Videotechnik. Als geeignet zur „Fingerübung“ bezeichnet Godard im Gespräch mit Youssef Ishaghpour Video an einer Stelle.[5] Das ist, im Lichte von Rougements „Penser avec les mains“, weniger abwertend gemeint, als es einem zunächst scheinen mag. Gerade als Fingerübung, als Hand-Werk im buchstäblichen Sinn, als Experiment, mit dem man hantiert und bei dem man erst noch herausfinden muss, was es alles kann, ermöglicht die Videotechnik Godard, den Film und seine Geschichte neu und anders zu denken. Wenn der Filmemacher sich im Laufe seines Videoessays immer wieder auch an der Schreibmaschine zeigt, wie er seinen Text tippt, dann ebenfalls aus diesem Grund: Um klar zu machen, wie die Werkzeuge, die man behändigt, nicht einfach einen Gedanken, eine Vision, die man bereits fertig in seinem Kopf hat, aufs Blatt übertragen, sondern dass vielmehr in diesem Akt der Hand-Arbeit selber sich ein neues Denken ereignet: „Der Kopf denkt bloß, er denkt. Die Hände arbeiten. Das ist nicht anders an der Schreibmaschine; die Finger denken; und denken anders als der Kopf“ bringt Klaus Theweleit das Motiv der Handarbeit bei Godard auf den Punkt.[6] Erst das Handwerk ermöglicht die ungeahnte Vision. Die Hand des Künstlers, seine Handlungen, sein Handwerk – das alles verrichtet nicht einfach einen vorgesehenen Dienst, sondern erschafft dabei etwas Neues, etwas, an dem das gewohnte Denken sich stößt – ein neues Denken, eine neues Sehen. Vision.

Erst das Werkzeug erlaubt Visionen

Eben diese Möglichkeit des Films eines neuen Sehens und Denkens hat lange vor Godard bereits der russische Filmpionier Dziga Vertov unterstrichen, wenn er 1923 in seinem Kinomanifest „Kinoki – Umsturz“ schreibt:

„Bis auf den heutigen Tag haben wir die Kamera vergewaltigt und sie gezwungen, die Arbeit unseres Auges zu kopieren. […] Von heute an werden wir die Kamera befreien und werden sie in entgegengesetzer Richtung, weit entfernt vom Kopieren, arbeiten lassen. Alle Schwächen des menschlichen Auges an den Tag bringen! Wir treten ein für Kinoglaz, das im Chaos der Bewegungen die Resultante für die eigene Bewegung aufspürt, wir treten ein für Kinoglaz mit seiner Dimension von Raum und Zeit, wachsend in seiner Kraft und in seinen Möglichkeiten bis zur Selbstbehauptung.[7] […] „Ich bin Kinoglaz. Ich bin ein mechanisches Auge. Ich, die Maschine, zeige euch die Welt so, wie nur ich sie sehen kann.“[8]

Entgegen der (wohl immer noch verbreiteten) Vorstellung, die Filmkamera imitiere das menschliche Sehen oder sei eine verlängernde Prothese des menschlichen Auges (eine Vorstellung, wie wir sie auch noch bei Marshall McLuhan finden), interessiert Vertov an der Kamera genau das, was sie dem gewohnten menschliche Sehen unähnlich macht. Die „Selbstbehauptung“ von Kinoglaz, dem Kino-Auge, besteht erst darin, sich vom menschlichen Sehen loszusagen, seine eigenen, neuen Visionen zu erschaffen. Diese Visionen aber sind nicht möglich ohne das Handwerk der Kamera. Erst aufgrund der Tatsache, dass Kinoglaz ein mechanisch-technisches und kein menschliches Auge ist, ist das neue, visionäre Sehen möglich. Giaco Schiesser hat dieses Verhältnis prägnant als „Eigensinn der Medien“ (und ihren Apparaturen) beschrieben, dem der Künstler unterworfen ist, genau diesen Eigensinn als „künstlerische Produktivkraft“ für seine eigenen und mithin eigensinnigen Absichten fruchtbar zu machen hat.[9] Entsprechend liegt auch beim filmischen Medium das Potential im Eigensinn seiner Seh-Werkzeuge, die ein neues, „eigensinniges“ Sehen und also auch einen neuen, „eigenen Sinn“ produzieren.

Theorie ist nicht theoretisch

Dieser Zusammenhang von Werkzeug und eigensinnigem Sehen ist eminent theoretisch – und zwar im absolut wörtlichen Sinne: Das griechische Wort θεωρεῖν (theorein), aus dem der Begriff der „Theorie“ sich ableitet, bedeutet ja laut Wörterbuch nichts anders als „beobachten, betrachten, anschauen“. Das angeblich so hochtrabende Wort „Theorie“ vor dem so mancher Künstler zurückschreckt, vielleicht sogar glaubt, sie mache die Erfahrung der Kunst zunichte, ist in Wahrheit gar nichts, dass von Außerhalb in die Sphäre der Kunst eintritt, sondern vielmehr, was diese immer schon selbst erzeugt. Theorie ist nichts Externes, das dem Kunstwerk aufgepfropft wird, sondern geschieht bereits in der Betrachtung, im Anschauen des Kunstwerks. Das Anschauen selbst ist unweigerlich Theorie.

Das gilt für den Film in ganz besonderem Maße, als sich hier alles ums Sehen dreht. Dass es bei Vertov keine Trennung zwischen seinen sogenannt filmtheoretischen Texten und seinen Filmen gibt, ist demnach nur konsequent. Insofern seine Filme ein neues Sehen vorführen, sind sie selber avancierte Theorie und umgekehrt beschreiben die theoretischen Texte nicht anderes als das was die Kamera bereits leistet. Wenn das Wort „Kino-Glaz“ bei Vertov sowohl Theorie-Begriff als auch Titel seines Films von 1924 ist, dann weil beides nicht voneinander zu treffen ist. Das neue Sehen des Films ist Theorie und Theorie ist Anschauung des Films.

Wichtig ist dabei auch festzuhalten, dass das Sehen, die Anschauung keine passive Tätigkeit ist. Auch dies macht der Film besonders eindrücklich klar, denn das Schauen findet hier nicht nur auf Seiten des Publikums im Kino statt, sondern auch von Seiten des Filmemachers, der Filmemacherin. Nicht nur dem Kinozuschauer wird ein anderes Sehen verpasst, auch die Regisseure und Regisseurinnen sehen anders, indem sie sich von ihrem eigenen Auge verabschieden und stattdessen auf das neuartige Kino-Auge einlassen. Theoretisieren, im Sinne von „ein neues Sehen versuchen“, ist nichts, was abseits der konkreten künstlerischen Arbeit geschieht, sondern findet vielmehr im Herzen des künstlerischen Akts selbst statt. Damit sollte schließlich auch klar werden, dass Handwerk und Theorie nicht die Gegensätze bilden, als die man sie gemeinhin auffasst. Die Gegenüberstellung, hier Handwerker, der aktiv etwas tut, dort der Theoretiker, der sich in passiver Betrachtung ergeht, kann beim Film nicht funktionieren, weil der hier der Handwerker ja mit einer Kamera und somit mit nichts anderem hantiert als mit einer Seh- und folglich auch einer Theorie-Maschine. Und umgekehrt ist der Theoretiker zwangsläufig Handwerker, weil er als Schauender mit eben jenen konkreten Seh-Werkzeuge operieren muss.

Re/Visionen des Ichs: „Furer-Soldan“

Wie konkret diese Verschränkung von Sehen, Handwerk und Theorie im Film geschehen kann, zeigt der an der Hochschule Luzern enstandene Kurzfilm Furer-Soldan von Julia Furer besonders prägnant. Darin geht es um die eigene Familiengeschichte, insbesondere die Trennung der Eltern der Regisseurin, welche in diesem Film mittels Interviews der Eltern, sowie Sichtung alter Filmaufnahmen rekonstruiert werden soll. Doch natürlich ist damit der Film nur unzureichend beschrieben, geht es bei diesem Versuch, die Trennung der Eltern buchstäblich nachzuvollziehen, auch darum, einen Prozess der Selbstreflexion der Filmemacherin selbst darzustellen.  der Regisseurin selbst darstellen.

„I bi selber no gar niemer gsi“ – dieser erste im Film gesprochene Satz, von der Mutter, deren Stimme wir aus dem Off hören, ist verblüffend widersprüchlich in seinem Wortlaut. Ich bin selber noch gar niemand gewesen. Ich bin niemand. Da ist Selbstbehauptung und Selbstnegierung, Präsenz und Absenz in einem Satz verdichtet. Ich bin. Damit fängt der Satz an. Aber dieses Ich ist niemand. Oder eben zumindest noch nicht jenes Ich, welches die Mutter im Verlauf ihrer Ehe werden wird und was schließlich auch, so können wir im Film entschlüsseln, zur Trennung vom Ehemann führen wird. Doch als wäre dies nicht schon komplex genug, sind diese Worte auf der Tonspur kombiniert mit Bildern, die dieses Ich noch zusätzlich in Frage stellen, es auflösen und verschieben, zeitlich und räumlich. Den Aufnahmen eines einsamen Scheinwerfers im Himmel, eines Ackerfeldes mit Graben, unterlegt von dem zitierten Satz der Mutter, folgen Ansichten von Super-8-Material, welches die Frau, die wir sprechen hören zu eben jenem Zeitpunkt zeigen, von dem sie sagt, dass sie selber noch gar niemand war (Abb. 1). Die Frau, die wir sehen, sagt, sie sei noch gar niemand gewesen. In dieser Montage von Ton und Bild geraten nicht nur Zeiten aneinander, der Kommentar von heute, die Bilder von damals, sondern auch verschiedene Ichs. Ich bin. Noch niemand. Der kurze Filmmoment wird zu einer Art Kristall in dem verschiedenen Zeiten und Subjektivitäten zersplittert und doch als Splitter fest zusammengefügt sind.

Noch faszinierender aber wird, wenn wir zu verstehen versuchen, was für ein Sehen das eigentlich ist, welches wir hier, während der Betrachtung dieses Films einnehmen. Die Aufnahmen des Himmels und des Feldes, Material, das eigens für diesen Film gemacht wurde, den wir hier sehen. Doch diese Bildern werden gefolgt von Aufnahmen, die nicht von der Regisseurin stammen können, weil sie selber, zum Zeitpunkt da sie entstanden, wohl noch gar nicht auf Welt war. Es liegen Jahrzehnte und mithin ganze Welten zwischen diesen beiden Aufnahmen und doch passt die eine zur andern. Der Blick in den Himmel zu Filmanfang findet seine Entsprechung im Blick in die Wolken, der eine ganze Generation früher eingenommen wurde. Der Blick, den uns diese Bilder verschaffen, es ist ein Blick der gerade nicht unser Blick und auch nicht der Blick der Regisseurin ist, nicht sein kann. Und trotzdem macht der Film es möglich, dass wir und die Regisseurin hier und jetzt mit diesem Blick, der nicht der unsere ist, sehen können. Die fremden Bilder sind zugleich auch die eigenen. Und wenn die Mutter als junge Frau von damals in die Kamera blickt, dann schaut sie in diesem Moment doch auch ihre Tochter und uns an, obwohl gerade das doch eigentlich unmöglich ist und jeder zeitlichen Logik widerspricht.

Dabei ist die angewendete Praktik in dieser Sequenz scheinbar einfach. Es wird fremdes, sogenanntes found footage genommen und dem eigenen Film einverleibt – ein Handwerk. Wenn wir aber darüber nachdenken und zu verstehen versuchen, was hier eigentlich geschieht, dann merken wir schnell, in welch schwindelerregende Paradoxien wir uns verstricken. Oder anders gesagt: Was wir hier gesehen haben, kann man offenbar machen. Der Film besitzt das Handwerkszeug dazu. Aber können wir es auch verstehen?

„Du“ sagt der Vater in einer späteren Szene. „Du hast Defizite signalisiert“, „Du hast das Gefühle gehabt, die andere nimmt mir den Platz weg“, „Du bist dann ein kleines Mädchen gewesen“, „Du hast mich heiraten wollen“, „Du hast mich geliebt“, „Du warst die Schwierigste“, „Du hast dich gesehnt nach Geborgenheit“. Aber wer ist dieses „Du“, von dem und zu dem der Vater hier spricht? Wiederum sehen wir zwischen dem neuen auch altes Film-Material. Ob es wirklich jenes Kind ist, von und zu dem der Vater spricht oder im Gegenteil jenes andere Kind, welche dem früheren den Platz streitig gemacht haben soll – das können wir nicht genau beurteilen. Der Film lässt es offen. Mit gutem Grund. Ist doch dieses Du sowieso immer schon ein anderes. Bereits im Kommentar des Vater treten lauter Dus auf die alle dieselbe Person bezeichnen sollen und doch alle verschieden sind. Diese Verwirrung wird durch die Einfügung der alten Kinderaufnahmen nicht gemildert, sondern nur noch komplexer: Denn selbst wenn es die Filmemacherin sein sollte, die auf diesen alten Aufnahmen zu sehen ist, zersplittert sich ihre Identität gerade im Prozess der Aneignung des alten Materials: indem sie sich die alten Aufnahmen zu eigene macht, nimmt die Filmemacherin einen Blick auf sich selber ein, einen Blick über mehrere Jahrzehnte hinweg, vom gegenwärtigen Ich auf das vergangene Ich. Die Regisseurin sieht sich jetzt, wie sie damals selber war. Es ist ein ganz und gar unmöglicher Blick, den das Handwerk des Films uns hier ermöglicht, ein Blick, der allen Gesetzen von Zeit und Raum widerspricht. Ein Blick, den man sich zu eigen macht, obwohl er doch gerade nicht der eigene sein kann.

Wenn sich schließlich die Regisseurin selber vor der Kamera zeigt, dann wird sie dabei von den Super-8-Aufnahmen der Vergangenheit angestrahlt. Sind es Aufnahmen von der Hochzeit der eigenen Eltern, oder von die Hochzeit des Vaters mit der anderen Frau? Die Regisseurin stellt sich dabei nicht nur vor ihre eigene Kamera, sondern zugleich auch vor den Projektor mit den fremden Aufnahmen, wobei ihr eigener Körper diese alten Aufnahmen, die auf sie projiziert werden, wieder zurückreflektiert, zurückwirft auf die eigene Kamera. So verschränken sich hier Anfang- und Endpunkt des Kinos, Aufnahme und Projektion in nur einem Akt. Die Sequenz, scheinbar einfach gemacht, ist Handwerk und könnte doch komplexer nicht sein: Wir sehen, einen Menschen im Bild, der zugleich auch jener ist, der dieses Bild, das wir da sehen überhaupt erst gemacht hat. Das Ich vor der Kamera ist zugleich jenes dahinter. Dieses Ich aber wird angestrahlt, wird angesehen von Filmbildern, die wiederum ihre eigenen und nicht ihre eigenen sind. Bilder eines fremden Blicks, den sich die Regisseurin aber trotzdem aneignet, sich einverleibt hat. Ja, sie stellt sich gar, wie in einer Art kruder Rückprojektionstrick selber in die Festgesellschaft von damals hinein. Sie selber wird zum Gast an einer Hochzeit, bei der es sie so, wie sie hier steht, eigentlich noch gar nicht gab (Abb. 2).

Es ist ein ganzes Bündel an widersprüchlichen Blicken, eine ganze Versammlung multipler, nicht zusammengehöriger Ichs und Dus, welche uns hier in nur einer Sequenz begegnen. Und wenn wir nun versuchen, auch unsere eigene Rolle als Betrachter von Julia Furers Film zu verstehen, wird alles noch abgründiger. Denn natürlich sind wir selber, indem wir diesen Film betrachten selber auch darin verstrickt. In dem wir den Film anschauen, übernehmen wir selber jenen in unzählige Widersprüche zersplitterten Blick und machen ihn, zu unserem eigenen. Wer könnte da noch behaupten, er begreife vollständig, was er da sieht?

Und ich würde behaupten, dass auch die Regisseurin selber nicht ganz verstehen kann, was sie hier eigentlich tut. Doch wird anhand dieses Beispiels klar, dass dieses Nicht-Wissen der Regisseurin angesichts des eigenen Werks gerade nicht gegen, sondern für dessen Qualität spricht. Es zeigt sich darin genau jener visionäre Überschuss, den nur zu erreichen ist, wer das Werkzeug des Films nicht als Prothese des eigenen Denkens, sondern als eigenwilligen Akteur versteht, der mehr und anders sieht, als das menschliche Auge. Er erfüllt sich hier Godards Forderung, sich auf ein Denken der Hände einzulassen, das den Denkenden selbst überschreitet.

Das erklärt denn auch ganz nebenbei, warum sich die Interpretation eines Kunstwerks nie mit den explizit geäußerten Intentionen des Künstlers oder der Künstlerin begnügen kann. Das gerne benutzte Argument „Aber das hat sich der Filmemacher gar nicht überlegt“ verfehlt gerade das eigentliche Potential des filmischen Handwerks, nämlich gerade das sehen zu sehen zu lassen, was man noch nicht bereits gedacht hat. Oder umgekehrt gesagt: Was man bereits weiß, dafür muss man keine Filme machen.

Sehen, was man nicht weiß

Das Medium des Films mit seiner unauflösbaren Verschränkung von Sehen, Theorie und Handwerk erweist sich damit als Schauplatz dessen, was der Philosoph Jacques Rancière unter dem Begriff der „intellektuellen Emanzipation“ versteht. In seinen Büchern „Der unwissende Lehrmeister“ und „Der emanzipierte Zuschauer“ unterzieht Rancière die pädagogische Logik, welche Lehrer und Schüler als einander entgegengesetzte Positionen auffasst, in welcher der Lehrer dem Schüler immer um einen Schritt voraus ist, einer radikalen Kritik.[10] Dieser Pädagogik, welche dem Lehrer die Position des Wissenden und dem Schüler auf die Position des Unwissenden zuweist und setzt Rancière die Idee einer „Gleichheit der Intelligenzen“ entgegen. damit ist nicht etwa gemeint, dass alle gleich viel wissen, sondern vielmehr, dass es nur eine Art von Wissen gibt:

„Es gibt nicht zwei Arten von Intelligenz, die von einem Abgrund voneinander getrennt wären. […] Die Distanz, die der Unwissende überschreiten muss, ist nicht der Abgrund zwischen einer Unwissenheit und dem Wissen des Meisters. Sie ist einfach der Weg von dem, was er bereits weiß, zu dem, was er noch nicht weiß, was er aber lernen kann, wie er den Rest gelernt hat.“[11]

Der Schüler befindet sich demnach nicht auf dem Weg zu einem Ort des Wissens, an dem der Lehrer bereits ist, sondern sie bewegen sich gemeinsam auf diesem Weg. Der „unwissende Lehrer„ wie in Rancière nennt, ist nicht etwa einer, der nichts weiß, sondern einer, der versucht mit seinen Schülern dem nachzuspüren, was man noch nicht weiß:

„Er lehrt seine Schüler nicht sein Wissen, er trägt ihnen auf, sich ins Dickicht der Dinge und Zeichen vorzuwagen, zu sagen, was sie gesehen haben, und was sie über das denken, was sie gesehen haben, es zu überprüfen und überprüfen zu lassen.“[12]

Gemeinsam darüber zu reden, was man gesehen hat und was man darüber denkt, zu verstehen versuchen, was man gesehen hat – das verstehe ich als Losung einer echten Filmtheorie. Im Film, bei dem das Machen, das Handwerk, das Hantieren mit dem Kino-Auge unabläßig ein neues Sehen erschafft, von dem man noch nicht alles wissen kann, werden wir alle zu Theoretikern und Schülern, zu Handwerkern und zu Visionären. Was Rancière über die Theateraufführung sagt gilt auch für die Filmvorführung:

„Sie ist nicht die Übermittlung des Wissens oder des Hauchs vom Künstler zum Zuschauer. Sie ist eine dritte Sache, die niemand besitzt, und deren Sinn niemand besitzt, die sich zwischen ihnen hält“[13]

Sei es, dass wir als Filmemacher durch die Kamera, oder als Zuschauer auf die Leinwand sehen – indem wir anders sehen, theoretisieren wir. Dem Film, dessen Sinn wir nie ganz besitzen können, denken wir sehend nach, gemeinsam. Die Regisseurin gemeinsam mit dem Publikum, der Lehrer gemeinsam mit seinen Schülern.

[1] Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, Wien: Passagen 2015, S. 23.
[2] Jean-Luc Godard: Histoire(s) du cinéma. Bd. IV, München: ECM 1999, S. 6-7.
[3] Vgl. Denis de Rougemont: Penser avec les mains, Paris: Albin Michel 1936, S. 146-147.
[4] Volker Pantenburg: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard, Bielefeld: Transcript 2006, S. 244.
[5] Jean-Luc Godard, Youssef Ishaghpour: Archäologie des Kinos. Gedächtnis des Jahrhunderts, Zürich-Berlin: Diaphanes 2008, S. 30.
[6] Klaus Theweleit: „Bei vollem Bewußtsein schwindlig gespielt“ im Booklet zur DVD „Jean-Luc Godard: Histoire(s) du cinéma, Geschichte(n) des Kinos“ Label: filmedition suhrkamp, S. 28.
[7] Dziga Vertov: „Kinoki-Umsturz“ (1923), in: Helmut H. Diederichs (Hg.): Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Méliès bis Arnheim, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 227-233, hier: S. 228.
[8] Ebd, S. 230.
[9] Vgl. Giaco Schiesser: „Medien / Kunst / Ausbildung. Über den Eigensinn als künstlerische Produktivkraft“ in: Sigrid Schade, Thomas Sieber, G. Ch. Tholen (Hg.): SchnittStellen, Basel. Schwabe 2005, S. 257-274, sowie: Ders.: „Autorschaft nach dem Tod des Autors. Barthes und Foucault revisited“ in: Corinna Caduff, Tan Wälchli (Hg.): Autorschaft in den Künsten. Konzepte – Praktiken – Medien, Zürich: Zürcher Hochschule der Künste 2008, S. 20-33, hier: S. 33.
[10] Vgl. Jacques Rancière: Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, Wien: Passagen 2007 und Ders.: Der emanzipierte Zuschauer, Wien: Passagen 2015.
[11] Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, Wien: Passagen 2015, S. 20-21.
[12] Ebd. S. 21.
[13] Ebd. S. 25.