Schwankende Seele. Das Schiff als Film und umgekehrt.

in: Programmheft Kino Xenix (Juni/Juli 2015), S. 1-4 ///

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für Matthias, Nemos Sohn

«Wenn man daran denkt, dass das Schiff ein schaukelndes Stück Raum ist, ein Ort ohne Ort, der aus sich selber lebt, der in sich geschlossen ist und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres ausgeliefert ist und der, von Hafen zu Hafen, von Landung zu Landung, von Bordell zu Bordell, bis zu den Kolonien fährt, dann versteht man, warum das Schiff nicht nur das grösste Instrument der wirtschaftlichen Entwicklung gewesen ist, sondern auch das grösste Imaginationsarsenal» – so heisst es bei Michel Foucault. Das Schiff bringt unsere Vorstellungskraft in Fahrt: Es ist Vehikel unserer Fantasie, mit dem wir träumend zum Unbekannten aufbrechen und das seinerseits Träume von fernen Ländern zurück in den heimischen Hafen bringt. Das Schiff als Imaginationsraum: Das gilt freilich auch und ganz besonders für den Film, der nicht nur Schiffe und deren Fahrten immer wieder gern zum Sujet macht, sondern dem selber unweigerlich etwas Nautisches anhaftet. Ist nicht der Kinosaal eigentlich selbst wie der Rumpf eines Schiffes, ein Ort ohne Ort: in sich zwar solide gebaut, zugleich aber immer auf wechselhaft schwankende Aussichten ausgerichtet? Die Bretter, aus denen die Baracke des Xenix gebaut ist, könnten auch die Planken eines Seglers sein; und der Kinosessel ist auch ein Ausguck, von dem aus wir neue Welten erspähen. Ob wir uns derart mit all den Seefahrern identifizieren, die auf den Wellen der Imagination kreuzen – mit Ahab, Kapitän Nemo und Steve Zissou –, weil wir doch eigentlich sind wie sie? Auch wir richten im Saal den Blick trotzig auf den Horizont, dorthin, wo die Leinwand hängt, und erwarten gespannt, in welche filmischen Gewässer wir vorstossen werden. Nicht umsonst hat der Regisseur Jean Epstein von den bewegten Bildern des Films als einem «fluiden Universum» gesprochen. Kino ist Bilderfluss, der sich schliesslich gar zum Meer ausweitet, dessen Wellen unseren Blick forttragen. Der Matrose mag zwar stillstehen auf Deck, mitsamt dem Schiff aber bewegt er sich trotzdem unablässig weiter, und entsprechend fährt auch der Zuschauer durchs fluide Universum des Films, ohne sich je aus seinem Sitz erheben zu müssen. Doch so, wie das Schiff immer bei sich und zugleich immer woanders, immer unterwegs ist, so erlaubt es auch auf seinem Deck solche Verschiebungen. Auf dem Schiff werden die Menschen anders und kommen dabei zugleich erst zu sich, so wie die Matrosen auf Sergej Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN oder die Meuterer auf der «Bounty», die sich der gewohnten Schikane verweigern, den Dienst versagen, sich dadurch aber erst als Menschen behaupten. Auf dem unablässig schaukelnden Schiff geraten auch die Beziehungen in Bewegung. Auf John Hustons «African Queen» kommen ein raubeiniger Abenteurer und eine prüde alte Jungfer als Liebespaar zusammen, auf Jean Vigos «Atalante» wird ein Eheleben zu dritt erprobt. Auf dem engen Raum des Schiffes ist Platz für riskante Versuche, nicht nur, was die hier spielenden Geschichten angeht, sondern auch die Art, wie diese Geschichten erzählt werden. Alfred Hitchcocks LIFEBOAT über eine Handvoll Schiffbrüchige im Zweiten Weltkrieg, welche sich in einem verloren auf dem Atlantik treibenden Rettungsboot zusammengepfercht wiederfinden, handelt nicht nur von jenem schwierigen Experiment namens Gesellschaft, der Film ist zugleich selber ein Experimentalfilm, in dem Hitchcock untersucht, wie noch auf kleinstem Raum und mit maximaler Reduktion der Mittel ganz grosses Drama möglich ist. An Bord des Panzerkreuzers revoltiert nicht nur die Mannschaft, sondern revolutioniert Eisenstein zugleich auch die Filmsprache, während Ang Lee in LIFE OF PI die Geschichte um den mit einem gefährlichen Tiger übers Meer treibenden Pi dazu nutzt, die neuen Möglichkeiten digitaler 3-D-Technologie auszuloten. Immer hart am Wind, gehen Schiffsfilme mit Vorliebe aufs Ganze, setzen sich selbst den Unwägbarkeiten von Wind, Wetter und Filmproduktion aus. So berichtet beispielsweise Werner Herzog in seinem FITZCARRALDO nicht bloss von einem Besessenen, der gegen alle Naturgewalten versucht, im peruanischen Dschungel ein Opernhaus zu errichten. Herzogs Film ist vielmehr bereits selber jenes wahnwitzige Unterfangen, von dem er erzählt und bei dem der Regisseur und seine Crew samt wild gewordenem Hauptdarsteller Klaus Kinski mehrmals selbst Schiffbruch erlitten haben.

Auf den ersten Seiten seines atemberaubenden Buches «Die fünf Sinne» beschreibt der Medientheoretiker und frühere Seemann Michel Serres, wie er während einer Feuerübung auf See sich vor dem beissenden Rauch aus einem Bullauge zu retten versucht und dabei seinen Körper plötzlich ganz neu und paradox erfährt. «Ich bin drinnen, verbrannt, verkohlt, nur der Kopf ist draussen, zu Eis geworden, zitternd, geblendet. Ich war drinnen, ich war draussen. Wer, ich?» Auf Schiffen werden nicht nur verschiedene Menschen zu Mannschaften zusammengewürfelt, auch sie selber werden unversehens neu zusammengesetzt. So wie die Ladung im Rumpf bei hohem Seegang, so kommt auf hoher See auch in den Personen selbst etwas unwiederbringlich ins Rutschen. «Ich bin ein Mensch, der mit der Menschheit gebrochen hat», sagt Kapitän Nemo in Richard Fleischers grandiosem 20 000 LEAGUES UNDER THE SEA von sich selbst und will in seinem Unterseeboot «Nautilus» nicht einmal mehr kulinarisch etwas mit den Erdbewohnern zu tun haben: statt Kalb gibt es Seeschlangenfilet, und statt Obst wird Seegurkenkompott gereicht. Nemo verkörpert damit nur im Extrem jene Verrutschungen, welche ohnehin alle auf dem Schiff erfahren. «Ich ist ein anderer» – das könnte auch als Losungswort der Seefahrer gelten. In Richard Curtis’ THE BOAT THAT ROCKED richtet sich ein britischer Piratensender auf einem Schiff ein, um von dort die Insel England ganz neu zu erobern, über die Radiowelle – noch so ein medialer Ozean. In Wes Andersons THE LIFE AQUATIC WITH STEVE ZISSOU erfährt ein eitler Tiefseetaucher, was es heisst, Vater zu sein. In J. C. Chandors ALL IS LOST erkennt ein langsam mit seiner Segeljacht untergehender Robert Redford nichts weniger als die fundamentalen Koordinaten menschlicher Existenz. Der Kompass ist nur der Lebenstrieb an sich: Man macht weiter, weil es auf dem Schiff nichts anderes zu tun gibt. Wenn Michel Serres seinen Körper durchs Bullauge zwängt, nennt er jenen Punkt am Leib, dort wo er spürte, dass er mehr draussen als drinnen ist, Seele. Die Seele, das ist jener fragile Schwerpunkt, der auf dem schwankenden Schiff immer neu lokalisiert und umverteilt wird. Das ist, was auch ALL IS LOST und letztlich alle Schiffsfilme so faszinierend macht: Weil wir hier zuschauen, wie Seele in Bewegung gerät, wie sie als Ladung verschoben, vertäut, versenkt, geborgen und weitergetragen wird – die Seele der Matrosen ebenso wie die Seele des filmischen Mediums an sich, das immer weitertreibt, weiterschwimmt. In Federico Fellinis E LA NAVE VA schwingt sich am Ende die Kamera über die Reling des Ozeandampfers und zeigt ihn uns als das, was er ist: eine Apparatur, umgeben mit Plastikfolien anstelle von Meereswogen. Doch der Blick hinter die Kulissen trägt unsere Fantasie nur noch mehr davon. Mögen wir auch sehen, dass Fellinis Schiff auf hartem Betonboden im Hafen des Studios steht, gerät doch unsere eigene Seele ob dieses Anblicks nur noch mehr ins Schlingern – so, wie man nach langer Seefahrt auch beim Landgang glaubt, der Boden schwanke. Das Kino steuert weiter. Öffnet die Leinwand! Setzt die Segel!

©Johannes Binotto

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